Das Leben im Dorf

Das Leben im Dorf

Im Dorf 

In kleinen Dorfgeschichten, über die man sich heute amüsiert, berichtet Fredi von seinen Kindheitserlebnissen in einem Dorf, in dem die Zeit stehen geblieben war. Es waren zehn aufregende und schöne Jahre mit Höhen und Tiefen. Trotz größerer und kleinerer Schwierigkeiten, fand Fredi in seiner Kindheit genügend Raum für  kleine Abenteuer. Vielleicht hatte er das Glück, dass seine alten Eltern mit ihren Sorgen und ihrer Arbeit so beschäftigt waren, dass er neben kleinen Aufgaben, genügend Spielräume für bescheidene Unternehmungen fand. Vielleicht räumten ihm seine Eltern diese Freiräume auch als Entschädigung für die ertragenen Fluchtstrapazen ein. Die Ansprüche bei Kindern waren in den 50iger Jahren nicht groß. Dafür entwickelten sie eigene Ideen für die kleinen Abenteuer, weil sie nichts Anderes kannten. Auch mussten sie mit einfachen Dingen auskommen. Spielzeug war Luxus und man fand es nur selten in armen Familien. Erst später bekam man in Geschäften Spielzeug zu kaufen. Fredi erinnert sich, wie ihn ein Junge für 10 Pfennig auf seinem Roller eine Runde fahren ließ. Er hortete unter seinem Bett verschiedene Stöcken, die ihm als Spielzeug dienten. Was er irgendwo fand und gebrauchen konnte schleppte er nach Hause. Fredis Spielplätze waren die Bauernhöfe, Scheunen und Felder. Die Herzen der Kinder schlugen höher, wenn sie auf Bäume oder hohe Strohdieme kletterten und sich in verbotenen Gärten die Taschen vollstopften. Das Dorf hatte mit seinen Bauernhöfen und Scheunen viel Abwechslung zu bieten. Die kindliche Fantasie förderte immer wieder neue Ideen zu Tage. Da es keine Spielplätze gab, nutzten sie die Möglichkeiten die im Dorf vorhanden waren, wie Bauernhöfe, Abbruchruinen, Scheunen, Sandkuhlen, Felder und Bäume in Wäldern und Gärten. Diese Spielplätze waren nicht ungefährlich. Ihren Eltern konnten sie nicht alles erzählen.

Ein- oder zweimal im Jahr fand ein kleiner Jahrmarkt statt. Karussells, Los- und Schießbuden wurden mitten im Dorf aufgebaut. Häufig in Verbindung mit dem traditionell abgehaltenen Ringreiten. Für das Ringreiten wurde auf dem Anger ein Parkuhr aufgebaut. Reiter lieferten sich einen Wettbewerb, der darin bestand, dass sie während des Durchreitens an einem Parkuhrtor aufgehängte Ringe in verschiedenen Größen mit einem kleinen Stock abstechen mussten. Es war immer ein schönes und spannendes Dorfspektakel. Einige von diesen Erlebnissen, die Fredi in Erinnerung behielt, möchte er wiedergeben. Nach den zehn Jahren in Ostdeutschland war das schöne Landleben vorbei, weil er mit seinen Eltern 1955 zu seinen älteren Geschwistern in den Westen zog. Im Westen träumte er nachts von den Abenteuern im Dorf und erwachte jedes Mal, wenn sich die trennende Grenze in sein Gedächtnis schlich.

Unterwegs im Dorf

Kleinpaschleben

Die trockenen, langen Sommer und zwei Monate Sommerferien waren für Fredi ein Stück endlose Freiheit. In dieser Zeit konnte er sich mit seinen Freunden, barfuss und nur mit Turnhose bekleidet, austoben. Natürlich half er auch seinen Eltern bei der Arbeit. Es war ein Kompromiss zwischen Pflicht und Spiel. Zu Fredis Pflichten gehörte das Hüten der Ziegen und Gänse auf dem Anger und die Mithilfe auf dem Feld sowie die Versorgung des Viehs. Die meiste Arbeit verursachten zwei Morgen eigenes Ackerland. Hier wurde jede Hand benötigt. Wenn Freunde mithalfen ging es umso schneller und sie hatten wieder Zeit zum Spielen.

Die langen Winterabende

Fredi erinnert sich, wie seine Eltern an langen Winterabenden Geschichten aus ihrer Heimat erzählten. Wenn Nachbarn zu Besuch kamen, wurde Altes und Neues berichtet. Manchmal kamen die Erwachsenen zum Kartenspielen zusammen. Hierbei konnte Fredi mit den Erwachsenen gut mithalten. Nur der starke Zigarettenqualm störte ihn. Weil es in dieser Zeit kein Fernsehen gab und der alte Volksempfänger nur leise Töne herausbrachte, gingen sie meist früh ins Bett. Auf dem Dorf hieß es, mit den Hühnern schlafen gehen und mit den Hühnern aufstehen. Daran hielten sie sich.

Fredis Vater rasiert sich mit dem Rasiermesser

Zeit hatte Fredi genug, auch um seinem Vater beim Rasieren zuzusehen. Meist war es der Sonntagvormittag, an dem sich sein Vater Zeit für eine gründliche Rasur mit dem Rasiermesser nahm. Auf dem Liederriemen seines ehemaligen Karabiners, der auch sein Hosengürtel war, zog er jedes Mal vor der Rasur sein Rasiermesser ab. Wie eine Zeremonie lief das sonntägliche Ritual seines Vaters ab. Er stellte sämtliche Utensilien, die er für diese Prozedur benötige auf den Tisch. Ein kleiner weißer Klappspiegel, ein Schälchen mit Wasser, Rasierpinsel, Rasierseife und das Rasiermesser lagen nebeneinander auf dem Tisch. Was nie fehlen durfte, war ein kleiner weißer Stift zum Blutstillen. Bis auf seinen Schnurbart, bepinselte er sein Gesicht mit viel Seifenschaum. Obwohl er aufgrund einer Kriegsverletzung ein steifes Handgelenkt hatte, führte er mit ruhiger Hand das Rasiermesser an sein Gesicht heran und zog hierbei Grimassen, um seine Gesichtshaut zu straffen. Das gefiel Fredi. Fredi konnte darauf warten, bis er an irgendwelchen Stellen im Gesicht blutete. Ungeachtet dessen schabte er weiter mit dem Rasiermesser die Bartstoppeln ab. Nur wenn es stark blutete unterbrach er und versuchte mit dem kleinen weißen Stift die Blutungen zu stillen. Am Ende wusch er den restlichen Schaum aus seinem Gesicht und tupfte es ab. Blutungen, die nicht mit dem Stift gestillt werden konnten, überklebte er mit Ziegarettenblättchenpapier. Als Raucher, der seine Zigaretten selbst drehte, hatte er immer ein Päckchen zur Hand. Am Ende desinfizierte er sein Gesicht mit Alkohol. Mit einer Schere stutzte er dann seinen Oberlippenbart. Dafür benötigte noch mehr Zeit.

Mit Vater zum Stuckenroden unterwegs

Da keine Äste und Bäume abgesägt werden durften, blieben nur die Stucken zum Verfeuern übrig. Das waren die Wurzelstämme von gefällten Bäumen. Häufig zog Fredi mit seinem Vater mit dem Handwagen los. Sein Vater wusste, wo sich Stucken befanden. Weit draußen an den Rändern der Ziethe. Während sein Vater mit dem Wurzelwerk kämpfte, sah Fredi entweder zu oder er beschäftigte sich mit anderen Dingen. Für diese anstrengende Arbeit hatte sein Vater Axt, Spaten und Holzkeile zum Spalten mitgenommen. Nur mühsam ließen sich Holzstücke von den Wurzelstämmen abspalten. Mit dem Spaten legte sein Vater Teile der Baumwurzel frei. Da die Arbeit längere Zeit dauerte, nahmen sie etwas zu Essen und Trinken mit. Meist wurden Brot und Speck in ein Tuch gewickelt und über den Daumen gegessen. Auch Fredi bekam etwas davon ab. Erst wenn der Handwagen voll beladen war, traten sie die Heimfahrt an. Manchmal thronte Fredi auf der Rückfahrt oben auf dem Handwagen.   

Der Schulbeginn

So wie jeder Erwachsene, so kann sich auch Fredi gut an den ersten Schultag erinnern. Er war so neu-gierig und aufgeregt, dass er gleich am ersten Tag seine Hausaufgaben vergaß. Seine alten Eltern, die man im Dorf als seine Großeltern ansah, trugen dazu bei, dass bei ihm vieles anders war. Er bekam die kleinste Zuckertüte. Da half es auch nicht, wenn ihm seine Mutter versicherte, dass es auf den Inhalt ankommt. Statt, wie andere Erstklässler, mit einem Tornister auf dem Rücken zur Schule zu gehen, bekam Fredi eine alte Lederhandtasche mit Griff. Dabei hätte er auch gern einen Schultornister gehabt, auch wenn dieser aus Presspappe war. In den ersten Schuljahren gab es Schiefertafeln mit Griffel und Schwamm. Echte Schiefertafeln gab es selten. Dafür gab es Tafeln aus Pappe. Obwohl die schwarzen Papptafeln wie echte Schiefertafeln aussahen, hielten sie meist dem Druck des Griffels nicht stand. In die Schultasche gehörte auch eine Rechentafel, ein Holzrahmen mit aufgereihten Holzperlen. Erst ab der dritten Klasse gab es Schulhefte aus grauem Papier. Während die ersten Schuljahre meist noch unpolitisch verliefen, wurde ab der dritten Klasse der Sozialismus mit seinen Errungenschaften vorgestellt. Sie kannten Ernst Thälmann, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und auch Adolf Hennecke. Ihnen wurde der Imperialismus und der kapitalistische Westen erklärt. Sie sollten erfahren, wer für Krieg und wer für Frieden war.

In der Schule im Westen

Bei allem was der Westen zu bieten hatte, fiel ihm später auf, dass die Schüler in Westdeutschland zwar nicht politisch beeinflusst wurden, aber auch nicht so umsorgt wurden wie in Ostdeutschland. Wer talentiert war und politisch mitmachte, konnte in der DDR kostenlos ein Instrument erlernen oder in Arbeitsgruppen seinen Neigungen nachgehen. Hier im Westen vermisste er zum Beispiel auch den sonntäglichen Kindertanz, den es im Dorf gab. In Westdeutschland konnte man einem Verein beitreten oder auch nicht. Es war jedem selbst überlassen.

Besuch im Westen

Bei seinem Besuch in Westdeutschland fand er keinen „goldenen Westen“ vor, von dem die Menschen in Ostdeutschland sprachen. In den 50er Jahren konnte man in Westdeutschland schon alles kaufen. Es gab auch keine Warteschlangen vor den Geschäften. Textilkaufhäuser und Schuhgeschäfte waren mit Waren vollgestopft. Im Haushalt seiner Geschwister gab es Staubsauger, Haushaltsmaschinen und andere Elektrogeräte, die er nicht kannte. Die Wäsche wurde in Waschmaschinen gewaschen und geschleudert. Er hatte das Gefühl, dass die Menschen in Westdeutschland alles als selbstverständlich hinnahmen, obwohl sie im Alttag auch ihre Probleme hatten. Meist waren es andere, als bei den Menschen in Ostdeutschland. Die Meinungsvielfalt und die Art wie sie im Westen zum Ausdruck gebracht wurde war groß. Hier konnte jeder sagen was er dachte und wenn er genügend Geld hatte, kaufen was er wollte. In den Geschäften wurden die Kunden freundlich behandelt. Ihm fiel auf, dass Kinder in den Geschäften häufig kleine Werbegeschenke bekamen. Von den vielen Autos, die er sah, lernte er schnell die Marken kennen. Auch die Luft war sauberer, weil hier nicht mehr mit Braunkohle geheizt wurde. Viele kleine Geschenke brachte er damals mit nach Haus und erfüllte seinen Freunden  diesen oder jenen Wunsch. Bei allem was er gesehen und erlebt hatte, verspürte er nicht das Bedürfnis in Westdeutschland zu bleiben. Dafür waren ihm auch seine Freunde zu wichtig.  

In der DDR war der 1. Mai der Tag der Arbeit, ein Tag der mit Pflichtbeiträgen von dem Volk honoriert werden sollte. Allerorts fanden Ausmärsche der arbeitenden Bevölkerung statt. Schüler hatten schulfrei und marschierten mit Halstüchern und blauen Pionieruniformen in den Zügen mit. Für Fredi und seine Freunde war der Fackelumzug am Abend das wichtigste Ereignis. Hier marschierten sie mit brennenden Fackeln durch den Ort. Feuer und Fackeln hatten es ihnen angetan. Aus Pech und alten Säcken bastelten sie sich selbst welche. Wenn Politgrößen durch das Dorf fuhren, bekamen sie schulfrei und durften als Pioniere mit Papierfähnchen den vorbeifahrenden Fahrzeugen zuwinken. Eines Tages fuhr Bulganin, der sowjetischer Verteidigungsminister war, auf der Landstraße von Köthen nach Bernburg in einer Kolonne durch das Dorf. Auch für diesen Tag bekamen sie schulfrei. Fredi kann sich daran erinnern, dass sie mehrere Stunden auf die Durchfahrt der Autokolonne warteten.

Ohne Zwang und ohne Halstuch nahmen sie dagegen mit den Erwachsenen am Faschingumzug im Dorf teil. Ein Mal im Jahr waren die Narren los. Bei dem traditionellen Treiben beteiligte sich die gesamte Dorfbevölkerung. Jung und Alt machte mit oder stand am Straßenrand. Handwerkerbetriebe aus dem Dorf, die über das Jahr an Ausstellungswagen werkelten, konnten ihre Schmuckstücke den erwartungsvollen Bewohnern vorführen. Fredi trat ein Mal mit einem Freund als „Max und Moritz“ auf. Hierbei teilten sie sich die Schuhe und die langen Strümpfe und fuchtelten mit eine Pappklatsche herum.

Der Dorfteich im Sommer

Hier am Teich spielte sich für Kinder im Sommer das Dorfleben ab. Hunde paddelten genauso im Wasser, wie Pferde und Gänse. Der Dorfteich wurde im Spätsommer wegen Sauerstoffmangel giftgrün. Als Vierjähriger hatte er sich zum Entsetzen seiner Eltern von zu Hause weggeschlichen, um mit anderen Kindern im Dorfteich zu baden. Als er seinen Schlüpfer auszog und am Rand planschte, entdeckten ihn seine Geschwister. Sie hatten ihn überall gesucht, nur nicht am Dorfteich. In Panik rissen sie ihn aus dem Wasser. Die entsetzen Gesichter und die Abreibung behielt er in Erinnerung. Die Aufregung um ihn verstand er nicht. Später durfte er mit anderen Kindern zum Baden, obwohl er immer noch nicht Schwimmen konnte. In dem dreckigen Wasser tat er nur so. Er bewegte sich, mit einem Fuß am Boden, bis hin zum Pferdeloch, der tiefsten Stelle und kehrte dann um. Als er einmal nicht mehr stehen konnte, lernte er plötzlich Schwimmen. Die Jungs rannten nackt mit der Hand vor dem „guten Stück“ aus dem Wasser und stellten sich an die sonnenbestrahlte rote Ziegelmauer zum Aufwärmen.

Im Winter stand der zugefrorene Teich wieder im Mittelpunkt. Bewohner sägten Eisstücke für ihre Eiskeller heraus, wie früher für die Brauerei. Eisschollen wurden von großen Jungs unter die Eisfläche geschoben oder sie sprangen auf ihnen umher. Auf dem Eis wurde Schlittschuh gelaufen oder Hockey gespielt. Schlittschuhe waren Mangelware und wurden von Vätern aus Holz und dickem Draht selbst gebaut und mit Lederriemen ihren Schützlingen an die Füße geschnallt. Hockeyschläger wurden aus dicken Ästen geschnitzt.

Der Anger

Wie fast jedes Dorf, so hatte auch sein Bauerndorf einen Anger, einen großen freien Platz. Der Anger lag gleich hinter dem Dorfteich und wurde im Süden von dem Fluss Ziethe und im Norden von hohen Gartenmauern abgegrenzt. Die große Fläche des Angers war mal verweist und mal voller Leben. Hier spielten Kinder, es grasten Gänse und Ziegen und Dorfveranstaltungen, wie das Ringreiten, wurden abgehalten. Auch Sportunterricht gab es hier. Der Anger wurde von Jung und Alt bei jeder Gelegenheit genutzt. Während der Erntezeit war er auch Dreschplatz. Fredi, der hier Ziegen und Gänse hütete und dabei mit anderen Kindern spielte, zog es immer wieder hier her. Er kann sich daran erinnern, wie die großen Jungen unter der Ziethebrücke verrostete Gewehre und alte Munition aus dem dreckigen Wasser holten. Häufig nahmen sie eine Abkürzung durch Bauernhöfe und offene Gärten, um über eine verwaschene runde Lehmmauer zum Anger zu gelangen. Unter der Ziethebrücke befanden sich Eisenträger, an denen sie sich über den Fluss hangelten. Zum Baden war der Fluss zu dreckig und nicht geeignet. Viele große Pappelbäume standen an den Rändern des Angers, die von den Jungs gern zum Klettern aufgesucht wurden. Auch kletterten sie über die hohen Mauern in die Gärten und stopften sich die Taschen voll. Einmal wurden sie erwischt und bekamen ordentlich Dresche.

Sand- und Müllgruben

Mitten im Dorf befand sich eine ausgediente tiefe Sandgrube, die sich mehr und mehr zur Müllgrube verwandelte. Hier hatte Fredi immer Spielkameraden gefunden. Auf den Hügeln fuhren sie im Winter Schlitten und im Sommer bauten sie in den leichten Böden Höhlen und Gänge, die sie mit Holz und Blech abdeckten. Kinderbanden zerstörten sich gegenseitig diese Behausungen. Es wurde erzählt, dass eine  Bande ihre Blechhütte unter 110 V-Strom gesetzt hatte. In der Sand- und Müllgrube außerhalb des Dorfes lebte im Sommer eine Familie mit Kindern, die Schrott sammelte und aus alten Teilen Fahrräder bastelte. Fredis Vater hätte hier beinahe ein altes Fahrrad gekauft. Die beiden Jungen lebten hier mit ihren Eltern in einem Behelfshaus und waren dorfbekannt. Sie waren mutig und überwanden jedes Hindernis. Sie kletterten an Dachrinnen und alten Bruchsteinmauern hoch, sie stiegen in die Spitze der größten Bäume und machten in den Gablungen Kopfstände. Wenn fremde Kinder ins Dorf kamen, führten sie ihre Kunststücke vor.

Die Strohdiemen

Barfuss waren die Stoppelfelder, die holprigen Fußwege und Straßen, kein Hindernis für sie. Fredi hatte den Dreh raus, wie er am besten barfuss über Stoppeln der abgemähten Felder laufen konnte. Im Spätsommer kletterten sie gern auf die riesigen Strohdiemen, die eine Höhe von mehreren Metern erreichen konnten und überall in der Feldmark aufgebaut waren. Von oben runter zu rutschen bereitete Fredi und seinen Freunden besonderen Spaß. Auch bauten sie sich in den Strohdiemen Gänge und Höhlen. Hier in der Feldmark konnten sie sich austoben, weil sich nur selten Erwachsene blicken ließen. Von diesen Abenteuern erzählten sie zu Hause natürlich nichts. Fredis Mutter dagegen merkte es bei der Abendwäsche, wenn Seifenwasser an Fredis zerkratzte Haut kam. Da Rapsstroh besonders tiefe Spuren in ihrer Haut hinterließ, wagten sie sich barfuss nicht auf abgeerntete Rapsfelder. Die Stoppeln waren hart und taten auch weh.  

Die Scheunen

Als Ersatz für die Strohdiemen im Spätsommer mussten im Herbst und im Winter die Scheunen herhalten. Sie waren vollgestopft mit Stroh und Spreu für das Vieh. Hier war das Spielen noch gefährlicher. In den Scheuneneinfahrten standen Holzleitern und Ackerwagen, auf denen sie herumkletterten. Auf den langen Leitern stiegen sie hoch ins Scheunengebälk, um von dort ins Stroh zu springen. Sie mussten aufpassen, ob sich unter dem Stroh Balken befanden. Als ihnen einmal ein Junge die Leiter wegstellte waren sie in Not. Sie mussten über Balken balancieren, um wieder runter zu kommen. Im unteren Teil der Scheunen gab es häufig wilde Nester von Hühnern, die von der Bäuerin übersehen wurden. Fredi erinnert sich, wie sie Eier aus den Nestern austranken. Ein Mal war ein schlechtes Ei darunter. Diesen Geruch behielt er lange in der Nase. Direkt unter einer Scheune hatte der Kuhbauer einen Ackerwagen mit Stroh abgestellt. Als sie darin spielen wollten und das Mädel von dem Kuhbauern etwas dagegen hatte, dass sie mitspielten wollten, ging Fredi und sein Freund in die Scheune nebenan, die dem Großvater seines Freundes gehörte. Sie beobachteten durch die Dachtraufe die spielenden Kinder. Schnell wurde ihnen klar, warum sie bei dem Doktorspiel nicht dabei sein durften. Oft durften sie dem Kuhbauer in der Scheune helfen. Hier zogen sie an einer Winde mit einem langen Seil die Getreidesäcke in eine Scheunenkammer.

Die Dorfpumpen

Überall im Dorf standen Pumpen, an Straßenrändern und auf Bauernhöfen, häufig in der Nähe eines Misthaufens. Unter den Pumpen befanden sich große und tiefe Brunnen. Die Pumpen im Dorf lieferten das Trinkwasser für die Bewohner. Da es kein Wasserleitungsnetz gab, hatte jeder Haushalt mehrere Eimer für sauberes und schmutziges Wasser. Das Schmutzwasser wurde über die Mist- und Jauchengrube der Höfe entsorgt. Im Sommer waren die Pumpen für die Kinder hervorragende Wasserlieferanten. Wenn Fredi und seine Freunde Durst hatten, suchten sie irgendwo eine Pumpe auf. Sie pumpten so lange, bis frisches, kühles Wasser kam und tranken es aus ihren Händen. Wenn sie vom Spielen dreckig waren, wuschen sie auch die Füße und das Gesicht an der Pumpe.

Im Winter wurden zugefrorene Pumpen zum Problem. Um die Wasserversorgung für die Familien aufrechtzuerhalten, wurden die Pumpen im Winter dick in Stroh eingepackt. Wenn sie dennoch zufroren, wurde das Stroh angezündet. Es wurde so lange Stroh dazugepackt, bis das Wasser in der Pumpe auftaute. Danach schleppten die Bewohner eimerweise das Wasser in ihre Wohnungen, mit dem sie bis zum nächsten Auftauen zurechtkommen mussten.

Der Kartoffeldämpfer

Ein Phänomen war der ausgeprägte Geruchssinn bei den Kindern im Dorf. Neben Durst bekamen sie beim Spielen auch Hunger. Entweder holten sie sich von zu Hause eine Bemme oder sie nahmen den Geruch von Kartoffeldämpfern auf, in denen Bauern irgendwo auf dem Hof Schweinekartoffeln kochten. Meist wussten sie, wann die Schweinekartoffeln im Dämpfer gar waren. Bei den großen Mengen kleiner Schweinekartoffeln hatten die Bauern kein Problem, wenn sich eine Kinderbande daran bediente. Fredi und seine Freunde aßen sie leidenschaftlich gern. Die frischgekochten Kartoffeln wurden von ihnen liebevoll abgepellt.

Wild gewordene Pferde

Im Dorf gab es häufig riskante Situationen mit durchgegangenen Pferden. Pferde sind Fluchttiere und scheuen, wenn sie Angst haben. In Fredis Kindheit waren Pferde noch Arbeitstiere und wurden vor Pflug und Wagen gespannt. Traktoren ersetzten sie nach und nach. Später gab es eine „MTS“ (Maschinen-Traktoren-Station) der „LPG“ (Landwirtschaftliche Produktions-Genossenschaft). Fredi bekam Angst, wenn wildgewordene Pferde durch das Dorf rannten. Wenn sie scheuten, konnte der Kutscher sie nicht mehr halten. In den meisten Fällen erschraken die Pferde, wenn etwas Außergewöhnliches geschah. Das konnte ein Knall, eine falsche Berührung oder Überforderungen und Misshandlungen sein. Es kam vor, dass Pferdegespanne mit Deichsel und Anspanngeschirr wildgeworden durch das Dorf galoppierten. Einmal kam Fredi auf der Dorfstraße ein wildgewordener und aufbäumender Hengst entgegen. Fredi konnte gerade noch in den Hauseingang des Pfarrhauses flüchten.

Das Kuhgespann

Harmlos und langsam waren Kuhgespanne, die es auch gab. In Fredis Nachbarschaft gab es einen Kuhbauern, bei dem er und seine Freunde auf dem Hof halfen. Dafür nahm der Kuhbauer sie mit seinem Gespann auf dem Kutscherbock mit. Den Kindern war die Fahrt mit eingespannten Kühen langweilig. Wenn der Bauer im Winter mit Kühen und Ackerwagen Sauerblatt vom Feld holte, hingen sie ihre Schlitten an den Wagen. Diese Fahrten waren langsam und langweilig.  Meist froren sie auch dabei. Der Kuhbauer war ein Bauer ohne Pferd, der einen alten Hof in der Dorfmitte hatte. Hier betrieb er später eine Milchwirtschaft.

Das Ziegenbockgespann 

Im Dorf gab einen Jungen, der ein Ziegenbockgespann hatte. Seinem Vater gehörten die beiden großen Dampf- und Dreschmaschinen auf dem Anger. Fredi hat dieses seltsame Gespann noch gut vor den Augen. Ein stolzer weißer Ziegenbock mit Bart, Hörnern und Ledergeschirr mit Zügeln   war vor einem Leiterhandwagen gespannt, auf dem der Junge thronte. Der Ziegenbock hörte auf jedes Kommando. Fredi war nie zu Ohren gekommen, dass dieses Gespann jemals durchgebrannt wäre. Gelegentlich kam es auch vor, dass ein Schäferhund mit Anspanngeschirr mit seinem Herrn einen Handwagen durch das Dorf zog.

Die Jagt auf Spatzen

Das Leben, auch das Kinderleben, auf dem Land war mitunter rau. Kinder bekamen mit, dass Spatzen Schädlinge waren, weil sie Korn fraßen. Es gab viele Spatzen auf den Feldern und den Bauernhöfen, so dass die Gemeinde für eingefangene Sperlinge eine Prämien aussetzte. Das führte auch bei Kindern zu einem respektlosen Umgang mit diesen kleinen niedlichen Tieren. So begaben sie sich mit allen Mitteln auf Spatzenjagd. Beliebt war das „Kotschenleuchten“. Mit Taschenlampen wurden Spatzen bei Dunkelheit angeleuchtet und in ihrem regungslosen Zustand eingefangen. Einmal verzichtete Fredi auf das Karussellfahren, weil er sich von dem Geld neue Batterien kaufen wollte. Es gab viele Möglichkeiten Spatzen zu fangen. Holzkäfige mit einer Schnur, das Erklettern von Häuser- und Scheunenwänden oder das Schießen mit der Steinschleuder auf Schwalbennester, in denen sich Spatzen eingenistet hatten.

Das Kranzsche Haus

Zuletzt wohnte Fredi mit seinen Eltern im Kranzschen Haus. Hier konnten sie Tiere halten.  Es war ein großes altes Haus mit zwei Stockwerken mit einem typischen Bauernhof dieser Region. Der  traditionell angelegte Misthaufen befand sich in der Hofmitte (ohne Zaun). Wegen des Misthaufens gehörten Fliegen überall, auch in der Wohnung, zum Alltag. Sie wurden mit der Flitspritze und aufgehängten Fliegenfängern bekämpft. Auf der rechten Seite des Hofes befand sich ein zweigeschossiges Bruchsteingebäude, in dem sich im unteren Teil mehrere Eingänge zu den Ställen und darüber die Speicher, die nur mit Leitern über Bodenluken erreichbar waren, befanden. Einzelne Eingänge wurden auf die Flüchtlingsfamilien aufgeteilt. Anfangs hatte noch ein Neubauer Platz für Pferd und Wagen auf dem Hof.

Einen Teil hatte Herr Kranz für sich reserviert. Im vorderen Teil des Hofes befand sich ein Brunnen mit Pumpe. Die Rinnsale und Pfützen vor der Pumpe hatte das Federvieh in Beschlag genommen. Auf der linken Hofseite war die Bruchstein-Rückseite des Nachbarhofes. Am linken Ende der Mauer standen die Plumpsklos und nebenan befand sich eine  große schmutzige Wasserlache, in der sich die Schweine suhlten. Am Ende des Hofes lag der verschlossene Gartenbereich des Hausherrn.

Neben mehreren Flüchtlingsfamilien bewohnte der alte Herr Kranz zusammen mit einem Ehepaar einen getrennten Bereich im Erdgeschoss. Nach dem Tod des Mannes der Betreuerin, versorgte die Frau den Eigentümer weiterhin. Ihr Sohn wohnte in Köthen und kam mit seiner Familie und den beiden Kindern häufiger nach Kleinpaschleben, um den alten Herrn Kranz zu unterstützen. Mit Wolfgang hatte sich Fredi angefreundet. Herr Kranz, der mit einer im Mundwinkel runterhängenden Tabakpfeife umherging, widmete seine ganze Kraft dem großen angrenzenden Garten, der von hohen Mauern umgeben war. Fredi und seine Freunde kletterten eines Tages über die mit Glasscherben präparierte hohe Mauer, um sich mit Obst die Taschen vollzustopfen. Der alte Herr Kranz hatte ihnen nie einen Apfel abgegeben. Am Hofeingang befand sich ein großes Hoftor mit einem Durchgang. Eine Eisenstange, die das Tor verschloss, benutzten die Kinder des Hofes zum Turnen. Eines Tages war sie mit Stacheldraht umwickelt. Obwohl sich die Kinderfreundlichkeit in Grenzen hielt, gab es auf dem Hof und in den alten Gemäuern viel zu entdecken.   

Das Gehöft von Herrn Kranz wird wohl ein Bauernhof mit dazugehörigem Land gewesen sein. Das Land wird er den neuen Machthabern überlassen haben, damit er sein Haus behalten durfte. Herr Kranz war auch der Mann, der im knietiefen Wasser des Kellers bei den Sowjets eingesperrt war, von dem Fredis Vater erzählte. Eigentlich fühlten sich Fredi und seine Eltern hier wohl, wenn es nicht eine  Flüchtlingsfamilie gegeben hätte, die wie Raben klaute. Die offenen Ställe und Böden im Haus luden auch dazu ein. Die räuberisch veranlagte Familie hatte ihre eigenen Ställe durch Verschläge abgesichert. Einmal war Fredi allein zu Hause, als jemand an die Tür klopfte. Obwohl die Tür verschlossen war und Fredi sich nicht meldete, weil er mal wieder auf dem Eimer saß, wurde aus dem Klopfen ein Hämmern. Plötzlich sprang die Tür samt Türriegel auf und ein bekanntes Gesicht sah Fredi verdattert an. Der Eindringling sagte nur: „Ich dachte, dass niemand zu Hause ist“. Obwohl bei ihnen nicht viel zu holen war, hatte die Rabenfamilie bewiesen wozu sie fähig war. Oft reichte zum Stehlen ein kurzer Moment. Fredi möchte nicht wissen wie oft seine Eltern von dieser Familie bestohlen wurde, weil von den großen Vorräten auf dem Speicher nie etwas übrig blieb.  Wenn sein Vater nachts in Obstplantagen Wache hielt, kündigten sie ihre Raubzüge an, die seinen Vater immer  in Schwierigkeiten brachten. Hinter dem Friedhof gab es einen großen Gemeinde-Obstgarten. Auf das hier gelagerte Obst passte Fredis Vater nachts auf. Fredi war es gruselig, wenn er im Dunkeln seinen Vater besuchte, weil der Fußweg direkt an dem Friedhofzaun vorbeiführte.

Gegenüber der Wohnung befand sich zwischen Scheunen und Mauern eine  schmale Gasse, die gern als Abkürzung zur anderen Straße benutzt wurde. Diese Kleine Gasse wird im Ort „Schlüppe“ genannt und ist ein Durchgang und eine Abkürzung zur parallel verlaufenden Straße und führte zum Dorfbäcker. Neben der Bäckerei befand sich eine weitere  Gasse, die als Abkürzung zur Bernburger Straße und zum Oberdorf führte. Einmal kam aus der abschüssigen Schlüppe ein Radfahrer, der Fredi umfuhr.

Als Fredi vor der Wende seiner Familie das Kranzsche Haus zeigen wollte, war es bereits abgerissen und als er nachdenklich vor dem leeren Grundstück stand, kam eine Frau aus dem Nachbarhaus heraus und fragte ihn: „Fredi, bist du es?“. Es war Ilona die nebenan wohnte und sie mit in ihre Wohnung nahm. Ilona kramte alte Bilder hervor. Mit Ilona und ihrer Mutter, wurde über „alte Zeiten“ und die neuste Entwicklung gesprochen.

Die Kartoffelkäferplage

Fredi und seine Freunde wussten, dass es auf dem Land viele Plagegeister gab. Das konnten Spatzen, Hamster, aber auch Kartoffelkäfer sein. Man erzählte, dass die Kartoffelkäfer von amerikanischen Flugzeugen abgeworfen wurden, um dem sozialistischen Staat zu schaden. Auf den großen Kartoffelfeldern der Magdeburger Börde kam man nicht mehr mit herkömmlichen Mitteln gegen diese Plage an. Als eines Tages der Dorfausrufer mit einer großen Glocke durch das Dorf ging, um die Botschaft des Bürgermeisters auszurufen, dass es für jeden eingesammelten Kartoffelkäfer einen Pfennig geben sollte, gingen die Dorfbewohner in Scharen auf die Felder. Auch Fredi und seine Eltern rüsteten sich mit leeren Flaschen aus, um sich zum Kartoffelkäfersammeln auf die Felder zu begeben. Für Fredi und seinen Eltern war es besonders sinnvoll, denn bei dieser Gelegenheit konnten sie auf ihrem eigenen Kartoffelacker die Käfer absuchen. So füllten sie, wie die meisten Dorfbewohner, Flasche für Flasche mit den kleinen Käfern. Auch die roten Larven wurden eingesammelt. In der Gemeinde wurde der Inhalt der Flaschen geschätzt und das Geld bar ausgezahlt. Da sie über Wochen flaschenweise diese Plagegeister einsammelten, kam am Ende ein beachtlicher Betrag zusammen, von dem sich Fredis Eltern für 80 Mark einen neuen Handwagen anschafften.

Kreisel und Reifen

Auf der Dorfstraße schlug Fredi mit anderen Kindern gern mit einer kleinen Peitsche den Kreisel. Als Kinder  freuten sie sich, wenn dieser hin und her sprang und auf der Straße „tanzte“. Um den Kreisel zum Laufen zu bringen, wickelten sie den Bindfaden der Peitsche in die Rillen des Kreisels und brachten ihn mit Schwung auf der Straße zum Drehen. Um ihn am Laufen zu halten, schlugen sie mit der Peitsche immer wieder auf die Spitze des Pintops. Wenn sie nicht richtig trafen, war das Spiel zu Ende. So ging es die Dorfstraße rauf und runter.

Ein einfaches und beliebtes Spiel für Jungs war das Reifenschlagen. Ein dünner Blechreifen und ein kleiner Stock reichten für dieses Spiel. Auf Bauernhöfen oder auf Schrottplätzen fanden sie immer einen alten Blechreifen. Ein kleiner Stock zum antreiben des Reifens hatte sich schnell gefunden. Die Kurventechnik war ganz einfach, weil man mit dem kleinen Stock  die Richtung des Reifen bestimmen konnte. So ging es die Dorfstraße rauf und runter. Technisch versierte Eltern bauten ihren Sprösslingen einen Reifen mit Achse und Verlängerung. So konnten sie den Reifen an der Verlängerung durch das Dorf steuern. Fredi fand das eher langweilig.

Da Spielzeug Mangelware war, entwickelte Fredi und seine Freunde immer wieder neue Ideen. Die Stöcke unter seinem Bett hatten viele Funktionen. Sie waren Hockeyschläger, Pfeil und Bogen, verbotene Zwillen oder andere Fantasiegegenstände. Auf den großen freien Flächen des Dorfes versammelten sich die Kinder zu gemeinsamen Spielen. Auf Sandwegen malten sie Hinkelkästchen oder spielten Kaiser, König … Bettelmann. Mit großen und kleinen Bällen oder Murmeln wussten sie immer etwas anzufangen. Beliebt war auf der langen Dorfstraße das Treibballspiel, da nur selten Fahrzeuge fuhren. Die Mädchen machten Handstände an den Hauswänden, bei denen ihnen das Röckchen ins Gesicht fiel. Erwachsene lehnten in den Fenstern und schauten dem Treiben der Kinder zu. Nur selten kam mal ein Eimer Wasser aus den Fenstern.   

Der Truthahn  

Eines Nachmittags durfte Fredi zum Spielen vor die Haustür. Drei schiefe Klinkerstufen führten direkt auf den großen Hof. Von hier aus konnte er alles überblicken. Die Stallungen drum herum, die Schwengelpumpe und den großen Misthaufen mit Jauchengrube mittendrin. Im hinteren Teil des Hofes waren die Plumpsklos. Die interessierten ihn nicht, denn er durfte noch auf den Eimer. Wasserleitungen und Abflüsse gab es nicht oder sie waren unbrauchbar.

Da es Winter war hatte seine Mutter Fredi dick angezogen. Sogar seine neuen roten Handschuhe bekam er an. Was sie übersehen hatte und was niemand ahnen konnte war der frei herumlaufende Truthahn, der noch sein Überleben bis Weichnachten fristete. Unter den vielen Gänsen, Enten und anderem Federvieh fiel er nicht auf. Fredi hatte gerade die letzte Treppenstufen verlassen, als plötzlich dieser Riesenvogel mit roten Bartlippen auf ihn losstürzte und ihn zu Boden schmiss. Auf dem Pflaster liegend hackte der Truthahn immer weiter auf seine roten Handschuhe ein. Perplex und voller Angst mobilisierte Fredi mit seinem Geschrei seine Mutter. Die war sofort zur Stelle und befreite ihn aus der misslichen Lage.

Was war passiert. Truthähne sehen in allem was rot ist ihren Gegner, also andere Truthähne mit roten Bärten. Obwohl Fredi nicht so aussah, wurden ihm seine roten Handschuhe zum Verhängnis. Zu seinen schönen neuen roten Handschuhen hatte Fredi von nun an ein gestörtes Verhältnis.   

Die Zuckerbemme

Not macht erfinderisch. In dieser schlechten Zeit ließen Fredis Eltern sich immer wieder etwas Neues einfallen, um seinen Hunger zu stillen. Fleisch gab es nur selten. Er hatte Appetit auf eine Schmalzstulle, aber die gab es nicht. Butter gab es erst recht nicht. Um den Hunger zu stillen, den Fredi beim Spielen schon mal bekam, holte er sich eine Bemme von zu Hause ab. Doch dieses Mal war seine Mutter nicht im Haus und seine ältere Schwester machte ihm eine Bemme. Ihm viel auf, dass sie diese mit Zucker berieselte und Kaffe darauf träufelte, damit der Zucker nicht runterfällt. So etwas kannte Fredi nur für den Notfall. Da er vermutete, dass noch etwas anderes im Haus war, bekundete er sein Missfallen und warf das Brot zum Entsetzen seiner großen Schwester kurzerhand auf den Fußboden. Als Ersatzerziehungsberechtigte konnte sie jetzt Macht auf Fredi ausüben. Entschlossen nahm sie ihn an die Hand und zerrte ihn über den Hof. Hier gab es eine Tür, die in ein dunkles Kellerverlies führte. Fredi konnte nicht glauben, dass sie ihn hier einsperren wollte. Sie tat es nach dem Motto „Strafe muss sein“. Ihm saß der Schreck tief in den Gliedern. Mit aller Kraft hämmerte er von Innen an die verriegelte große Holztür. Fredi kann sich nicht mehr daran erinnern, ob er vor Schreck in die Hose gemacht hatte. Auf jeden Fall begleitet ihn dieses Erlebnis bis heute. Niemand hatte Fredis Klopfen gehört. Zum Glück kam seine Mutter bald nach Hause. Nachdem seine Schwester ihr triumphierend von der erzieherischen Maßnahme berichtete, eilte seine Mutter über den Hof um ihn aus der misslichen Lage zu befreien. Im Haus angekommen bekam er erst Mal eine Schmalzstulle. Zwischen seiner Mutter und seiner Schwester herrsche für einige Zeit Funkstille. 

Die Vögel

Die kleine Feldwirtschaft verschaffte der Fa-milie neben der Arbeit auch ein Stück Freiheit in der Natur. Wenn Fredis Eltern, meistens seine Mutter, auf dem Feld arbeiteten, war er häufig dabei. Manchmal zog es ihn auch mit Freunden dort hin. Man muss wissen, dass die Magdeburger Börde, in der sie lebten, ein flaches Land ist. Kilometerweit konnte man über das Land und über die Felder blicken. Zwischendrin waren kleine Waldhaine oder Baumreihen zu erkennen. Am Horizont waren Dörfer und die Kirchtürme der Städte zu sehen. Lange holprige Feldwege mit bunten und grünen Rändern zogen sich durch die weite Landschaft. In dieser Zeit war die Natur noch in Ordnung. Auf jeden Fall für Fredi. Gut kann er sich daran erinnern, wie er sich ins Gras legte und im blauen Himmel den weißen Wolken nachschaute. In den Formen der Wolken stellte er sich viele Dinge vor. So konnte Fredi seinen kindlichen Fantasien freien Lauf lassen. Begeistert hatten ihn immer wieder die Lerchen, die mit ihren Gesängen immer höher in die Lüfte stiegen. Lange konnte er ihnen zusehen. Ab und zu mischte sich ein Bussard oder ein anderer Greifvogel in das Geschehen. Die interessierten ihn damals nicht.

Eines Tages fiel seiner Mutter auf, dass Fredi seiner Lieblingsbeschäftigung nicht mehr nachging. In den langen, Winterabenden hatte er sich Märchenbücher ausgeliehen und Grimmsmärchen gelesen. Hier gab es Geschichten von “bösen Vögeln”, die ein Lamm oder ein Kind in die Lüfte entführten. Spätesten hier entwickelte Fredi seine Ängste. Seine Mutter merkte irgendwann, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Als Fredi ihr eines Tages von seinen Albträumen erzählte, schmunzelte sie und klärte ihn auf. Von da an ging Fredi im Sommer wieder seiner Lieblingsbeschäftigung nach.  

Das Gewitter

Es war Sommer 1949 in dem kleinen Dorf in Sachsen Anhalt. Fredis Eltern hatten als Flüchtlinge im Zuge der sowjetischen Bodenreform zwei Morgen Ackerland erhalten. Zu je einem Teil wurde Weizen, Kartoffeln, Gemüse, Klee und Luzerne für  Ziegen und Kaninchen angebaut. Obwohl viel Mühe und Arbeit mit der Bewirtschaftung verbunden waren, sicherten sie so ihre Existenz. Fredi befand sich eines Tages mit seiner Mutter auf diesem Feldgrundstück. Seine Mutter wollte in den Gemüsebeeten arbeiten, als sich bereits der Himmel verdunkelte. Fredi betrachtete die ganze Zeit den Himmel und fragte irgendwann: “Mama, kommt da ein Gewitter?”. “Ich bin gleich fertig, dann gehen wir nach Hause”, war ihre Antwort. Aber plötzlich fing es schon zu regnen an. Seine Mutter hörte sofort mit der Arbeit auf. Sie nahm ihn an die Hand und sie machten sich schnell auf den langen Heimweg. Um sie herum blitzte es bereits und es wurde dunkeler. Als sie sahen, wie die Blitze um sie herum einschlugen und es im gleichen Moment donnerte, bekamen sie Angst. “Mama ich habe Angst”, sagte er, als sie schnellen Schrittes auf dem Heimweg waren. “Wir müssen jetzt so schnell wie möglich nach Hause”, waren ihre Worte. Als Fredi zur Seite blickte, sah er wie die Blitze neben ihnen einschlugen. Die lauten Donnerschläge ließen sie und die Erde erbeben. Fredi vergisst nicht, wie in dieser weiten und flachen Landschaft die Blitze auf die Erde niedergingen. Es staubte. Jeder Blitz war weithin sichtbar. Zum Glück kam Fredi nicht der Gedanke, dass einer davon auch ihn treffen könnte, aber bestimmt hatte seine Mutter daran gedacht. Dass sie inzwischen pudelnass waren war zur Nebensache geworden. Die hellen Blitze und die lauten Donnerschläge hatten sie abgelenkt. Dieses Naturschauspiel hatte beide stark beeindruckt. Bei starken Gewittern muss Fredi heute noch an diese Situation denken. Zum Glück war ihm damals die Gefahr nicht bewusst. Seine Mutter hatte sich ihre Angst nicht anmerken lassen. Erst als sie nach einigen Kilometern die ersten Häuser erreichten entspannte sich die Lage etwas, obwohl sie Blitz und Donner im Dorf weiterhin verfolgten. Die abschüssige Straße hatte sich zu einem kleinen Bach verwandelt. Unten im flachen Dorf bildeten sich inzwischen kleinere Seen auf den Straßen. Da es keine Kanalisation gab dauerte es einige Zeit bis das Wasser wieder ablief. Selbst als ihr Zuhause in Sichtweite war, blitzte und donnerte es immer noch. Fredi hatte seine Angst inzwischen überwunden, auch weil er sich schon darauf freute mit anderen Kindern nach dem Gewitter auf der Straße Dämme zu bauen. Den Kindern machte es Spaß, aus dem angeschwemmten Material Dämme zu bauen, um große Seen zu schaffen und so das Wasser noch länger auf der Dorfstraße zu halten. Als er seine Mutter fragte, „darf ich nachher auf der Straße spielen?”, sah er ihren fragenden Blick. Völlig entsetzt war seine Mutter, als die beiden zu Hause von seiner Schwester mit Schadenfreude empfangen wurden, weil sie pudelnass daher kamen. Seiner Schwester war sicher nicht bewusst, in welcher Gefahr sie sich befanden.

Wer heute noch ein Gewitter in freier Natur erlebt, weiß welche Energie in den Blitzen steckt. Fredi und seine Mutter fanden in der freien Feldlandschaft keinen Schutz. Nach dem Naturgesetz hätten sie sich flach hinlegen müssen, am besten in eine Ackerfurche. Aber wer macht das schon? 

Auf der Jauchengrube

Dass man auf einer stinkenden Jauchengrube Spaß haben kann, kann man sich heute nur schwer vorstellen. Auch Erwachsene nicht mehr. In schlechten Zeiten waren Kinder erfinderisch und probierten vieles aus. So beobachteten sie sehr genau, wenn die Bauern den angesammelten Stroh- und Stallmist auf die Felder fuhren. Das eröffnete Fredi und seinen Freunden ein neues, aber auch gefährliches, Abendteuer. Die riesigen Misthaufen befanden sich in der Mitte der Bauernhöfe, drum herum waren Ställe mit Vieh und auch die Schwengelpumpen für das Frischwasser. Wasserpfützen von Pumpen nutzte das Federvieh zum Trinken und putzen. Gänse, Enten, Hühner, aber auch Spatzen und Tauben labten sich an diesem Rinnsal.  

Zurück zu Fredis Spielplatz. Sein Augenmerk und das seiner Spielkameraden galt der Beobachtung, wann der Stallmist soweit abgefahren war, bis der auf der Jauche schwimmende Rest gerade noch begehbar, besser bespielbar, war. Da sie sowie barfuss unterwegs waren, testeten sie zwischendurch, ob der verbliebene Strohmist die richtige Stärke hatte. Wenn der Stallmist auf der darunter befindlichen Jauche noch tragfähig war, begann das Spiel. Der üble Geruch störte die Kinder nicht, den einbrechen konnten sie auch nicht. Sie kamen höchstens mit einem Fuß mit der Jauche in Berührung. Irgendjemand wusste immer auf welchem Hof sich ein abgefahrener Misthaufen befand. Das Geheimnis war, die verbliebene Schicht sollte nur so stark sein, dass sie die Kinder noch trug. Durch die unterhalb dieser Schicht schwimmende Jauche entstand eine wabbelige Masse. Sagen wir, so etwas wie Pudding. Die Herausforderung bestand nun darin, über diesen Pudding zu laufen, ohne auch nur einmal mit den Füßen einzubrechen und mit der Jauche in Berührung zu kommen. Es waren Mutproben, bei denen sie Spaß und Schadenfreude hatten. Wenn einer von ihnen bei der Überquerung mit der Jauche in Berührung kam, durfte er nicht wieder antreten. Die Größeren mit mehr Körpergewicht mieden dieses Spiel. Sie standen am Rand und stachelten die Kleineren an. Es ging hoch her. Worte wie: „Dicker Lauf schneller“, „du bist feige, wenn du dich nicht traust“ oder „Fredi pass auf“, fielen. Erwachsene Zuschauer gab es hierbei nicht und wenn sie dazukamen, vertrieben sie die Kinder. Auch die Eltern durften davon nichts erfahren. Heute wird dieses Spiel niemand verstehen.

Blühende Rapsfelder

Schon die warmen Tage im Frühsommer nutzte Fredi und seine Freunde, um sich auf die Felder und Gärten zu begeben. Als sie eines Tages in der Feldmark herumstromerten, entdeckten sie bunte Kisten mitten im großen blühenden Rapsfeld. Da sie vom Feldweg aus nicht erkennen konnten, was das wohl sein konnte, machten sie sich auf den Weg dorthin. So kamen sie diesen eigenartigen Aufbauten mitten im blühenden Rapsfeld immer näher. Als sie dicht genug dran waren, erkannten sie, dass es sich um Bienenstöcke handelte. Nun war es aber bereits zu spät. Nicht nur sie hatten die Bienenstöcke erkannt, auch die Bienen hatten sie entdeckt und traten ihre Verteidigung an. Als sie vom Bienenschwarm überfallen wurden, blieb ihnen nichts anderes übrig, als wegzurennen. Sie rannten um ihr Leben und versuchten die Bienen abzuwehren. Umsichschlagend versuchten sie die Verfolger abzuwehren, was ihnen aber nur zum Teil gelang. Wieder am Feldweg angekommen leckten sie ihre Wunden. Jeder zählte seine abbekommenen Bienenstiche. In den folgenden Tagen wollte jeder wissen, was mit ihnen geschehen war. Fredi hatte es besonders stark getroffen. Sein Gesicht war total gequollen, er konnte nur noch auf einem Auge sehen. Da half es auch nicht, dass seine Mutter die Beulen kühlte. Die Schmerzen mussten er nun aushalten. Schlimmer war, dass sie im Dorf ausgelacht wurden.

Mit etwas Abstand betrachtet kann sich Fredi heute soviel Dummheit nicht mehr vorstellen. Es ist aber auch zu erkennen, dass Kinder nicht nur naiv sind, sie sind auch neugierig und unternehmungslustig. Leider kommt manchmal das Überlegen zu kurz, weil sie anders „ticken“.