Paul Pivtorak – Deutsches Haus Czernowitz

Paul Pivtorak – Ein Deutscher Ukrainer in Czernowitz

Paul Pivtorak
Paul Pivtorak

Bei unseren Besuchen in Czernowitz gab es jedes Mal Kontakte zu Paul Pivtorak. Als hervorragender Kenner der Stadt führte er uns zu den historischen Schauplätzen, was bei deutschen Gästen in der Stadt immer einen Wohlfühlfaktor auslöst. Aus dieser freundschaftlichen Verbindung heraus möchte ich auf die interessante Lebensgeschichte von Paul Pivtorak und seiner Familie hinweisen. Paul Pivtorak ist ein Bindeglied zwischen dem Verein der Österreichisch-Deutschen-Kultur „Wiedergeburt“ in Czernowitz, der im Deutschen Haus in der ehemaligen Herrengasse (Vul. O. Kobyljanskoji 53, UA – 58002 Tscherniwzi) ansässig ist, und den Ländern Rumänien, Deutschland und Österreich.  

Familie Pivtorak – Zur Zwangsarbeit nach Deutschland

Die Mutter von Paul Pivtorak war als Grundschullehrerin  in einem ukrainischen Dorf in der Nähe der polnischen Grenze tätig, als sie im Juni 1941 von Deutschen Soldaten abgeholt und in ein Sammellager gebracht wurde, um zusammen mit anderen jungen Ukrainern in Güterwaggons zur Zwangsarbeit nach Würzburg in Deutschland verschleppt zu werden. Auch im Dorf seines Vaters war es nicht anders. Monate später wurden in dem Dorf seines Vaters die jungen Ukrainer von den Nazis zur Arbeit nach Würzburg verschleppt. Auf dem Bahnhof in Würzburg angekommen, wurden sie als Zwangsarbeiter in Süddeutschland verteilt. Während seine Mutter zu einer Bäuerin kam, deren Mann an der Front war, wurde sein Vater zu einem Bäcker in der Nähe zur Zwangsarbeit zugeteilt. Die Bäuerin musste noch weitere Zwangsarbeiter, eine Frau aus Polen und zwei Männer aus Italien und Frankreich, beschäftigen. Die beiden Frauen und die beiden Männer bekamen jeweils ein Zimmer im Haus der Bäuerin. Das Essen nahmen sie gemeinsam mit der Bäuerin ein. Zwangsarbeiter verschiedener Herkunft durften sich samstags für ein paar Stunden treffen. So hat Pauls Mutter seinen späteren Vater kennengelernt. Obwohl die Zwangsarbeiter auf diese Weise isoliert waren, lebten sie in Freiheit. Nach Ende des Krieges wurden sie ganz in die Freiheit entlassen. Während die meisten Zwangsarbeiter in ihre Heimat zurück fuhren, blieben einige in Deutschland. So auch Pauls späteren Eltern. Sie wurden in ein Lager nach Kirchheim-Teck gebracht, das unter amerikanischer Verwaltung stand, in dem Pauls Vater eine Ausbildung als Schweißer absolvierte. 1946 wurde bereits Paul und sein Zwillingsbruder Peter in Uffenheim geboren, wo die Familie untergekommen war. Peter ist in 1980 gestorben.  Später erhielt sein Vater bei einer Stuttgarter Tiefbaufirma eine Arbeitsstelle als Schweißer und die Familie eine Wohnung in Sindelfingen. Seine Mutter arbeitete hier in einer Wäscherei. In Sindelfingen gingen Paul und sein Bruder in den Kindergarten und später in die Schule. Die Eltern, die gut Deutsch sprachen, unterhielten sich zu Hause aber Ukrainisch, sodass die Brüder zweisprachig aufwuchsen. Das Deutsch der  Jungen war so gut, dass sie in der Schule nicht als Ukrainer wahrgenommen wurden. Sie nahmen auch am kath. Religionsunterricht teil und gingen später in der Kirche zur Kommunion. In Sindelfingen lebten damals in der Nähe der Wohnung Familien verschiedener Nationalitäten. Jeden Sonntag gingen die beiden Jungen mit ihrer Mutter nach Böblingen in den Ukrainischen Verein und lernten dort Ukrainische Gedichte und Lieder.

1958: Rückkehr der Familie in die Ukraine

Die Eltern tauschten sich in dieser Zeit in Briefen mit ihren Verwandten und Eltern in der Heimat aus. Das Heimweh der Eltern war so groß, dass sie auf die Briefe von zu Hause, in denen ihnen auf Geheiß des Geheimdienstes die Ukraine in rosa Farben geschildert wurde, reinfielen und beschlossen in die Ukraine zu ziehen. 1958 ist die Familie in das Dorf von Pauls Vater gezogen. Inzwischen hatte man ihnen sämtliche deutsche Unterlagen abgenommen. Im Dorf angekommen, kam die große Ernüchterung. Das Elternhaus seines Großvaters war mit Stroh gedeckt, statt Strom gab es eine Petroleumlampe, die Wasserquelle war 300 m entfernt, als Toilette wurde der Kuhstall oder das Maisfeld genutzt. Sämtliche Bauern gingen barfuß, nur wenn sie in die Kirche gingen zogen sie Schuhe an. Während seine Eltern, vor allem seine Mutter, weinte, als sie das erlebten, sagten die Verwandten, dass ihnen die Briefe vom Geheimdienst diktiert wurden. Ebenfalls im Jahr 1958 wurde seine Schwester geboren, die später bei einem Besuch mit ihrer Mutter in Deutschland, mit 34 Jahren einen Mann kennen lernte und seit dem in Deutschland lebt. Für die beiden Jungen war das neue Leben in der Ukraine so etwas wie ein Abendteuer. Nach drei Monaten verließen sie das Dorf, weil Pauls Vater in einer Gebietsstadt in der Nähe eine Mietwohnung für die junge Familie besorgen konnte. Später bauten sie dort ein eigenes Haus. Hier fand Pauls Vater eine Anstellung als Schweißer. Als die Jungen eingeschult wurden, fielen sie mit ihrer Kleidung auf, so dass man sie als Faschisten beschimpfte, mit einem Begriff, den sie nicht kannten. Seine Mutter hat sich danach beim Direktor der Schule beschwert, der dann die Klassenkammeraden zurechtwies. Im Deutschunterricht schickte die Lehrerin die Jungen auf den Schulhof , weil sie sich über ihre Aussprache lustig machten und sich die Deutschlehrerin schämte. Als Paul und sein Bruder 1962 sechzehn Jahre alt wurden, ging seine Mutter zur Behörde, um Pässe zu beantragen. Da der Geburtsort in Deutschland von Paul und seinem Bruder nicht angegeben werden durfte, wurde das Feld freigelesen, in dem Paul später seinen Geburtsort eintrug.

Paul Pivtorak

Nach der Schule nahm Paul verschiedene Arbeiten an, bis er schließlich Schneider lernte. Ab 1999 arbeitete er in einer Nähfabrik. 1970 heiratete Paul seine Frau Ljuba. Seiner Mutter gelang es, den anstehenden Militärdienst aufzuschieben, bis er schließlich 1971 mit 25 Jahren eingezogen wurde, obwohl seine Frau inzwischen ein Kind erwartete. Beim Militär wurde Paul zunächst als Kraftfahrer eingesetzt, bis er bei der Armee in Czernowitz durchsetzte als Schneider seinem Beruf zu arbeiten. Von nun an brauchte er nicht mehr auf den Kasernenhof und führte in einem Raum in der Kaserne gegenüber dem Stadtpark mit einer Nähmaschine Änderungen an Soldatenuniformen durch. Als 1971 sein Sohn Andrij geboren wurde, konnte er seine Freizeit mit seiner Frau und seinem Kind in Czernowitz verbringen. Nach der Militärpflicht ging Paul 1973 zurück zu seinen Eltern und lebte dort zusammen mit ihnen mit Frau und Kind in einem Zimmer. Ende 1974 verlängerte er beim Militär die Dienstzeit, weil die Familie in Czernowitz eine Zweizimmerwohnung bekam. In diesem Jahr wurde auch sein zweiter Sohn Roman geboren. 1991 kündigte er den Armeedienst. Als Paul im gleichen Sommer durch die ehemalige Herrengasse ging, suchte das Deutsche Haus für den Verein Leute mit Deutscher Sprache. Als er sich dort vorstellte, wurde er gleich von dem damaligen Vorsitzenden eingestellt. Die Mitglieder des Vereins wunderten sich, dass er als Ukrainer so gut Deutsch sprach. Hier fühlte er sich von Anfang an wohl und ist heute  der stellvertretende  Vorsitzende. In den Jahren seiner Tätigkeit hat er viele Gäste aus Deutschland betreut und Veranstaltungen im Deutschen Haus organisiert. Gern kommt er heute noch seinem Gesangshobby im Deutschen Chor des Hauses nach. In der Zwischenzeit arbeitete Paul mehrere Jahre als Übersetzer für Spiel- und Trickfilme für ein Fernsehstudio im Czernowitzer Gebiet und als Übersetzer in einer Nähfabrik, die für Deutschland nähte. Als diese nach Vietnam ging, arbeitete er viele Jahre als Übersetzer in einer anderen Nähfabrik, die für Deutschland Frauenunterwäsche herstellte. Viel Wasser ist inzwischen den Pruth hinuntergelaufen. Inzwischen ist er mehrfacher Großvater. Hingebungsvoll pflegte Paul Pivtorak seine Frau Ljuba, die nach schwerer Krankheit an das Bett gebunden war und nach langem und schwerem Leiden in diesem Jahr verstarb.

Paul Pivtorak und seine Verbindung zu Deutschland, Österreich und Rumänien

Nach 60 Jahren traf Paul Pivtorak eine Lehrerin aus Böblingen, die in Czernowitz als Gast weilte. Sie stellte nach ihrer Rückkehr in Deutschland die Verbindung zu alten Klassenkameraden her. Bereits im September 2018 nahm Paul an dem Klassentreffen seines Jahrgangs teil. Bei Besuchen verschiedener Orte frischte er alte Erinnerungen wieder auf. Seine ehemaligen Klassenkameraden staunten über seine Erzählungen, zumal sie sich nicht daran erinnerten, dass ihr ehemaliger Klassenkamerad Ukrainer war. In fortgeschrittener Stunde sang Paul Pivtorak ihnen das Lied „wir sind die Buchenländer Leut`“ vor. Ab jetzt wird Paul zu jedem Klassentreffen eingeladen. Anlässlich einer Reise im Jahr 2019 weilten ein Freund und ich eine Woche lang in Czernowitz. Hier wurden wir wieder von Paul Pivtorak, der inzwischen zum Stellvertreter der Vorsitzenden des Österreichisch-Deutschen Kulturvereins ernannt wurde, begrüßt. Im “Deutschen Haus” nahmen wir an einer Chorprobe von Vereinsmitgliedern mit Akkordeonbegleitung durch die Chorleiterin teil, in der ausschließlich deutsches Liedgut vorgetragen wurde. Danach führte uns Paul in das gegenüber liegende “Polnische Haus”, wo uns der Czernowitzer Polnische Chor „Echo Prutu“  (in schönen Roben gekleidet) eine private Sondervorstellung gab. Ebenfalls führte uns Paul Pivtorak zu beiden großen gegenüber liegenden Friedhöfen (dem christlichen Friedhof und dem jüdischen Friedhof) an der Vulitza Zelena und zur ehemaligen Bischöflichen Residenz der Bukowiner Metropoliten (heute: Jurij-Fedkowytsch-Universität Czernowitz) sowie zu berühmten Häusern und Museen der Stadt. Die ehemalige Herrengasse (heute Vulitza Kobyljanska) war zu diesem Zeitpunkt eine gut besuchte  Flaniermeile. Unser Reisebericht mit Video ist unter dem Link abrufbar: https://www.bukowinafreunde.de/von-siebenbuergen-in-die-bukowina/  

Alfred Wanza – 4/2023