ERINNERUNGEN AN DAS WEIHNACHTSFEST IN POZORITTA VON IRMA BORNEMANN

ERINNERUNGEN AN DAS WEIHNACHTSFEST IN POZORITTA VON IRMA BORNEMANN

Als Kinder glaubten wir an Märchen und als Erwachsene träumen wir manchmal davon …

Wie ein entschwundenes Märchen erscheinen mir heute die Erinnerungen an das Weihnachts- und Neujahrsfest bei meinen Großeltern in der Südbukowina. Die letzten Schultage vor den Weihnachtsferien in Czernowitz wollten kein Ende nehmen. Die Vorfreude auf das bevorstehende Fest steigerte sich von Tag zu Tag und als es endlich soweit war, standen die heimlich gepackten Koffer der Eltern bereit, um die große” Reise von Czernowitz nach Pozoritta anzutreten. Ein Fiaker brachte die ganze Familie zum Bahnhof, die Eltern hatten Mühe Kinder und „Bagage” einzuwagonieren und die prickelnde Ungeduld zu besänftigen. Vorbei an tiefverschneiten Dörfern, an zugefrorenen Flüssen und dunklen Wäldern ratterte unsere liebe alte Eisenbahn den Karpaten entgegen. Altvertraute Bahnhöfe grüßten uns bei kurzen Aufenthalten und nach Kimpolung zählten wir bereits die Minuten bis zum Eintreffen in Pozoritta. Die hochaufgerichtete Gestalt des Großvaters am Bahnsteig löste unseren Jubel aus. Wir waren endlich angekommen. Die Schlittenfahrt mit den leichtfüßigen Pferden durch das verschneite Dorf, an der Moldau entlang, die Berge Adam und Eva grüßend, war für uns Kinder ein verheißungsvoller Auftakt. Großmutter, Tanten und Onkeln empfingen die ,,Czernowitzer Familie” mit herzlichen Umarmungen, mit Fragen nach dem Verlauf der Reise, mit Sorgen ob auch niemand dabei ,,verhungert” wäre. Unsere gute, liebe „Baba” hatte alles vorbereitet für einen schönen Empfang. Sie konnte sich erst beruhigt zu Tisch setzen, als alle und alles gut untergebracht war und das allgemeine Erzählen seinen Anfang nahm.

Heimlich schlich ich aus dem warmen Zimmer und rannte über den Hof zu meinen Freundinnen”, die ich seit den Sommerferien nicht mehr gesehen hatte. Es waren die schönen, weißen Gänse im Geflügelstall, deren Betreuung im Sommer mir die größte Freude bereitet hatte. Sie schienen mich tatsächlich wiederzuerkenen, denn wie sollte ich ihr lebhaftes Schnattern sonst verstehen? Ich stand mitten unter ihnen und streichelte ihr weißes Gefieder. Der gebräuchliche Ausspruch über die ,,dummen Gänse” fiel mir ein, wie ungerecht so etwas zu sagen! „Meine“ Gänse waren wirklich gescheit, auch daran glaubte ich als Kind. Mein besorgter Großvater, der mein Verschwinden bald bemerkt hatte, wusste, wo er mich finden würde, stand plötzlich hinter mir und gütig lächelnd führte er mich zurück in den Kreis der Familie.

Am nächsten Tag wurden wir Kinder unter vielen Vorwänden vom „großen” Zimmer ferngehalte Geschäft wurden die letzten Vorbereitungen für den „Heiligen Abend” getroffen, dem die Kinder erwartungsvoll entgegenfieberten. Um die Zeit leichter zu überbrücken, durften wir ,,rodeln” gehen, tummelten uns mit den Nachbarskindern im Schnee und konnten uns dann im sogenannten „Sommerhaus” neben den Stallungen wieder aufwärmen. Denn das Betreten des Wohnhauses war erst beim Glockenklingeln erlaubt. Geschnigelt und gestrigelt von unserer Mutter warteten wir auf das erlösende Geläut. Pferde, Kühe, Schweine, Gänse und Hühner waren von der umsichtigen Magd und dem tatkräftigen Knecht wohl versorgt, alles um uns strömte Frieden aus. Wir vergaßen dabei uns gegenseitig zu hänseln, wegen Kleinigkeiten zu streiten, oder unangebrachte Wünsche zu äußern. Die Freude auf das ,,Christkindl”, das an diesem Abend zu den Kindern kommen sollte, um sie zu bescheren und am Heil der Welt teilnehmen zu lassen, erfüllte unsere kindlichen Gemüter. Denn wir glaubten damals daran und wollten uns diesen Glauben durch nichts nehmen lassen.

Endlich war es soweit. Ein Glöckchen erklang, Eltern, Tanten und Onkeln führten uns in das große” Zimmer, wo es bereits verheißungsvoll duftete. Die Türen öffneten sich vor uns und wir standen vor einem zimmerhohen Tannenbaum, auf dem viele, viele brennende Kerzen uns entgegenleuchteten. Das Funkeln der bunten Glaskugeln, die schön verzierten Lebkuchen, die in Seidenpapier und Staniol gewickelten Bonbons, die vergoldeten Nüsse und die pausbäckigen roten Äpfeln bereiteten den unwiderstehlichen Zauber alter Weihnachtsgeschichten aus.

Die Erinnerung daran sollte mich ein Leben lang begleiten. Großmutter sprach mit uns ein dankbares Vaterunser für den Segen unseres Heilands, der auf die Welt gekommen war, die Menschen zu erlösen. Die Blicke der Kinder huschten derweil über die unter dem Weihnachtsbaum getürmten Geschenke und folgten nur zögernd der Aufforderung unserer ,,Baba”, jetzt die schönen Weihnachtslieder zu singen. Die Heilige Nacht” war für uns angebrochen und die ,,fröhliche, selige Weihnachtszeit” eingeläutet. Im Lied sahen wir die Hirten zum Jesulein kommen, alle Tiere friedlich vor dem geborenen Heiland stehen und über alles leuchtete der immer grünende Tannenbaum …

Mit Herzklopfen näherten wir uns dem Lichterbaum und durften unsere Geschenke entgegennehmen. Geschenke die das Christkindl unter dem Baum gelegt hatte… Wie konnte es nur unsere geheimsten Wünsche erraten haben? Es war eben für uns allwissend! Gedanken, dass alle unsere Lieben ihm dabei geholfen haben, verdrängten wir wundergläubig. Die Wunder der Heiligen Nacht waren für uns Kinder unantastbar, als ahnten wir, dass sie einmal einer rauhen Wirklichkeit weichen müssen. Denn wir glaubten an die Märchen der Kindheit, von denen die Erwachsenen in stillen Stunden träumen werden …

Nur widerwillig trennten wir uns von den Geschenken, um der Aufforderung unserer Großmutter zu folgen und an der festlich gedeckten Tafel Platz zu nehmen. Die lange ,Fastenzeit” vor Weihnachten sollte an diesem Abend ihren Höhepunkt erreichen. Denn nach alter Sitte durften am Heiligen Abend nur Fastenspeisen auf den Tisch kommen, was nicht bedeuten sollte, dass wir dabei hungrig geblieben wären. Die zwölf Apostel bestimmten auch die Zahl der aufgetragenen Speisen. Als erstes verteilte Großmutter Oblatten, die sie stückchenweise brach und jedem reichte. Dann folgte der Borschtsch aus roten Rüben mit Uschki, mit Fischfleisch gefüllte Teigtascherl. Als kalter Zwischengang wurde Karpfensülze aufgetragen mit duftenden Kolatsch (Hefezopf). Goldgelb panierter Karpfen mit Kartoffelsalat war der nächste Gang. Dazu tranken die „Großen” einen klaren Schnaps und wir Kinder bekamen sogar ein Schlückchen weißen Wein. Wie klug waren die Ermahnungen der lieben Baba, nur mäßig zuzugreifen, denn der Nachtisch sollte auch gebührend gewürdigt werden. Gekochter Weizen mit Walnüssen, Mohn, Honig und Zucker – auch Kutja genannt – eröffnete den Reigen der Süßspeisen. In Erinnerung an die ersten schweren Zeiten der Besiedlung der Südbukowina wurden dünne Weizenmehlfladen gebacken und in einer süßen Mohn-Honig-Sauce in Stückchen gebrochen serviert. Dann folgte das Kompott aus getrockneten Zwetschgen, die in Pozoritta in keinem Garten fehlten. Mohn- und Nußstritzel aus Hefeteig durften nicht fehlen. Die Kinder freuten sich besonders über die Vanillekipferl, den Lebkuchen, Nußpusserl und Husarenkrapferl. Dazu gab es Wein für die „Großen” und für die Kleinen“ hausgemachten Himbeersaft mit Siphon. Wer keinen Rebenwein hatte – denn der war damals teuer und musste aus anderen Gegenden gebracht werden -, genoss den selbstgemachten Ribiselwein, der nicht ohne Tücke war wegen seines hohen Alkoholgehalts. Eine erfreuliche Unterbrechung der fröhlichen Unterhaltung war der Gesang der Colinda”-Kinder unserer rumänischen Nachbarn, die von Haus zu Haus gingen und gute Wünsche darbrachten. Sie wurden zum Dank reich beschenkt.

Als die große Standuhr elf Mal schlug, mahnten die Großeltern zum Aufbruch, wir sollten alle zur mitternächtlichen ,,Christmette” gehen. Wir Kinder wurden warm angezogen und bekamen kleine Laternen für die Wanderung in der dunklen Christnacht. Bei klirrender Kälte glitzerte der knirschende Schnee am Weg und die Sterne am schwarzen Himmel schienen zum Greifen nah’! Aus allen Häusern kamen vermummte Gestalten und riefen sich ,,Fröhliche Weihnachten” zu. Vergessen war nachbarlicher Streit, vergessen die Mühen der harten Winterzeit in den unwegsamen Karpatenwäldern, ein tiefer Friede umhüllte die gläubigen Christen auf ihrem Weg zur weihnachtlichen Mette. Orgelklänge in der schlichten Dorfkirche, Weihnachtslieder aus rauhen Männerkehlen, klingende Frauenstimmen und das Jubilieren der zarten Kinderstimmen folgten der Weihnachtsbotschaft und dem gemeinsamen Gebet. Unvergessliche Erinnerungen einer fernen Kindheit. Auf dem Rückweg mußte so manches müde Kind von starken Armen getragen werden. Während die Kinder, zu Hause angekommen, in ihren Bettchen selig einschliefen, konnten die Erwachsenen bei erwärmendem Glühwein und köstlichem Gebäck noch kurze Zeit ihre Unterhaltung fortsetzen. Nicht zu lang, denn am nächsten Morgen, dem ersten Weihnachtstag, sollten alle zum Hochamt in die Kirche gehen.

Neben städtisch” Gekleideten sah man Frauen in langen schwarzen Wollröcken, gefütterten Spenzern und in dicke Wolltücher gehüllt, Männer im Feiertagsanzug und gefütterten Jacken den schwarzen Hut auf dem Kopf auf dem Weg zur Kirche. Die heilige Messe vereinigte fast alle Dorfbewohner am ersten Weihnachtstag in der Kirche.

Nun war die Fastenzeit zu Ende und man durfte wieder Fleischspeisen aller Art genießen. Die vor Kathrein dem Fest zu Ehren der heiligen Katharina geschlachtete Sau wurde zu vielfältigen Spezialitäten verarbeitet, die in Speisekammern, am Rauchboden und im kühlen Keller aufbewahrt wurden. Der geräucherte Schinken wurde weichgekocht, es gab Blut-, Leber-, Fleisch- und Bratwürste, alle leicht geräuchert wegen der besseren Haltbarkeit, gepökeltes Bratenfleisch und vieles mehr. Hinzu kamen aus dem Geflügelhof Gänse-, Hühner- und Entenbraten, alles Erzeugnisse des eigenen Haushaltes, in dem unsere „Baba” das Zepter führte. Ihr oblag auch die Auswahl und Zubereitung der Speisen, die an den Festtagen auf den Tisch kamen. Als Beilagen gab es gesäuerte Preiselbeeren, Sauerkraut, Zwickel mit Kren (rote Rüben mit Merretich), gesäuerte Gurken aus dem Eichenfass und Ghiveci (gesäuertes Mischgemüse). Zu den häuslichen Getränken gehörte der rubinrote Wischniak (aus Weichseln gegärt) der dunkelblaue Afiniak (Heidelbeerenschnaps) und der bereits erwähnte Ribiselwein (Johannisbeerwein). Die Bewirtung der Familie und der vielen hinzukommenden Gäste war zu jeder Tages- und Nachtzeit sichergestellt. Unverkennbar war auch der Stolz der Hausfrau, wenn ihre eigenen Hausrezepte gelobt und gerühmt wurden. Etwas davon habe auch ich versucht in die Zukunft zu retten, was bei der Fülle der angebotenen Fertigprodukte aus allen Ländern nicht immer leicht war.

Nach dem zweiten Weihnachtstag kehrte der Alltag wieder ein. Aber für uns Kinder aus der Stadt war Ferienzeit mit viel Spaß im Hof, auf der Straße, in der Nachbarschaft und in der unvergesslichen Schönheit der Karpaten. Der Tag des Heiligen Sylvesters läutete das Neue Jahr ein. Nach dem Besuch des Dankgottesdienstes am späten Nachmittag begann das Neujahrsfest – diesmal ohne Fastenspeisen. Der von Weihnachten stehengebliebene und mit neuen Kerzen bestückte Weihnachtsbaum erstrahlte im neuen Glanz, eine festliche Tafel vereinte Groß und Klein, es wurde gesungen, gelacht und gespeist. Plötzlich hörten wir draußen auf der Straße merkwürdige Geräusche. Peitschen knallten, Männer feuerten sich gegenseitig an, ein tiefes Brummen begleitete ein hölzernes Geklapper und eine einsame Fidel versuchte ihr klagendes Lied zu spielen. Unsere Kinderherzen klopften erschreckt, ein Blick durch das mit Eiskristallen bedeckte Fenster erhellte das Geheimnis: Der „Buhai” (Stier) war zu unserem Haus gekommen und machte seine ,,Aufwartung”! Erklärende Worte von Großvater nahmen uns allmählich die Furcht vor den dunklen Gesellen da draußen, wir zogen uns alle warm an und begrüßten vor dem Haus diese Ansammlung von über zwanzig Menschen. Und was sahen unsere erstaunten Kinderaugen?

Ein aufgerichteter riesiger Braunbär tanzte zum Klang der Fidel, eine „Capra” (Ziege) klapperte mit ihren Holzkiefern freudig dazu, ein Doktor” mit Ärztetasche und Stetoskop prüfte die Herzschläge seiner Begleiter, ein ,,Gendarm” (in alter österreichischer Uniform) sorgte für Ordnung und viel Fußvolk drum herum vollführte merkwürdige Tänze. Und immer wieder erklang das Brummen des „Buhais”, das aus einer Holztrommel mit einer Lederhaut und einem Pferdeschwanz, an dem immer wieder gezogen wurde, kam. Sie vertrieben die bösen Geister, sie begrüßten mit ihrem Tun das Neue Jahr und brachten Hochrufe aus und gute Wünsche für den so geehrten Mitbewohner des Dorfes. Nie wieder sollte ich so ein Spektakel erleben, wie es sich an dem Neujahrsabend in Pozoritta uns „Stadtkindern” bot. In späteren Jahren versuchte ich den Legenden dieses Buhai” nachzugehen. Mit wenig Erfolg, denn die Mitspielenden küm-merten sich nicht um Ursprung und Geschichte, sie pflegten eine Überlieferung, die zu ihrem Dorfleben gehörte. Reichlich mit Schnaps, Geld und Süßigkeiten beschenkt, zogen sie alle zum nächsten Haus. Mit lustigen Späßen und einigen Tänzen zum Klang eines alten Grammophons ging auch dieses schöne Fest zu Ende. Am nächsten Tag verabschiedete sich ein Teil der angereisten Verwandten und ihre Pferdeschlitten brachten sie nach Kimpolung, Valea-Putnei und Poiana-Iztkany zurück. Wir aber durften unsere Ferien weiter genießen. Der 6. Januar, das Fest der Heiligen drei Könige, bei den Rumänen „Boboteaza” genannt, war der letzte Ferientag und die letzte Gelegenheit unserer Großeltern, ihre Kinder und Enkerl zu verwöhnen. Nach der Messe in der Kirche, gingen wir mit den rumänischen Bewohnern des Dorfes in einem langen Zug zu der zugefrorenen Moldau. An der Spitze schritt der rumänische ,,Popa” in seinem festlichen Gewand, es folgten der katholische und der evangelische Pfarrer, der Bürgermei-ster, der Gendarmeriechef, der Bahnvorstand und andere „Honorationen” der rumänischen, deutschen und auch jüdischen Bevölkerung von Pozoritta. Aus dem Eis des Flusses wurde ein großes Kreuz in einzelnen Blöcken geschnitten und am Ufer aufgestellt. Es sollte als christliches Symbol so lange stehen bleiben, bis das Eis am Ende des Winters zerschmolz. Bei dieser Gelegenheit konnten wir die schönen Trachten der Rumänen bewundern. Gestickte Hemden über wollene weiße Hosen der Männer, golddurchwobene Katrinzen der Frauen, reich verzierte Lammfelljacken zeugten von einer alten überlieferten Volkskunst, die noch heute in den Gebirgsdörfern der Bukowina in Ehren gehalten wird. Die Frauen schützten sich vor der winterlichen Kälte mit wollenen Kopftüchern, die Männer trugen hohe Lammfellmützen, „Kuschma” genannt. Mit einem gegenseitigen „Noroc si sanatate” (Glück und Gesundheit) kehrten alle in ihre warmen Häuser zurück. Am nächsten Tag mussten wir die Heimfahrt nach Czernowitz antreten. Ein letzter Besuch bei meinen Gänsen im Stall, ein letzter Blick in den Kuhstall, zaghaftes Streicheln des braven Wachhundes im Hof, das loslösen von all den Herrlichkeiten bei unserer Baba, ein Abschied der nicht endgültig war, damals noch nicht, denn wir wollten in den nächsten Sommerferien wiederkommen. Fast lautlos glitt der Schlitten mit den ungeduldigen Pferden dem Bahnhof entgegen. Letzter Dank für herrliche Tage und ein hoffnungsvolles „Auf Wiedersehen”. Die aufrechte Gestalt unseres Großvaters entschwand erst bei der ersten Biegung der Eisenbahnschienen unseren Augen. Glückliche Kindheit, selige Erinnerungen sind Quellen der Freude bis heute geblieben. Wer wollte sie missen? Auch als

Erwachsene dürfen wir von Märchen träumen.