Erinnerungen an Irma Rusti

Irma Rusti, Geschichte einer Bukowina-Zeitzeugin

Irma Rusti in ihrem Haus in Jakobeny (Iacobeni)
(im Mai 2020 verstorben)
Irma Rusti in ihrem Haus in Jakobeny (Iacobeni)
(im Mai 2020 verstorben)


Vorwort

Diese kleine Geschichte verdeutlicht, dass noch heute Deutsche in der Bukowina/Rumänien leben. Einige sind aus familiären Gründen 1940 nicht umgesiedelt, andere sind von den Sowjets wieder zurück in die verlorene Heimat beordert worden. Hier wurden sie wie Fremde behandelt, weil ihre Häuser belegt waren. Das sowjetische Militär hatte Anweisungen, Angehörige aus der Bukowina wieder nach Rumänien zurückzuschicken. Irma hatte Glück, da sie mit ihrer Familie nach Rumänien kam, als die Deportationen Deutscher nach Sibirien bereits abgeschlossen waren. Stalin hatte bei den Alliierten durchgesetzt, im Osten verbliebene Deutsche zu Aufbauarbeiten nach Sibirien zu deportieren. Für in Rumänien verbliebene Bewohner deutscher Herkunft war dadurch eine schwere Zeit angebrochen. Nur wenige sind nach der Zwangsarbeit zurückgekehrt.

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Anlässlich unserer Bukowinareise besuchten wir im September 2012 die in Jakobeny lebende Rentnerin Irma R., um sie und ihre Freundin zu einem Treffen in Pojorâta einzuladen. Sie wohnte allein in einem Haus an der Eingangsstraße von Jakobeny.  Da sich hinter dem Haus ein steiler Berghang befindet, wird es in den Wintermonaten und im Frühjahr von unten her so sehr durchnässt, dass in jedem Jahr die Wände neu geweißt werden müssen. Eine provisorische Sperre vor dem Hang hat das Problem nicht gelöst. Auch durch den Straßenneubau lief das Wasser von der Straßenseite direkt auf ihr Grundstück. Da die von ihr angesprochene Bürgermeisterin von Jakobeny keine Hilfe zusagen konnte, hat sie selbst Sand und Zement herangeschafft, um eine Absperrung zu betonieren. Das wichtige und für das Überleben notwendige Brennholz hat sie sich für den Winter schon besorgt. Und zwar eine ganze Maschine, wie man hier sagt. Das Sägen und Spalten hat sie ebenfalls von dem wenig Ersparten bezahlt. So versucht die Frau mit der kleinen Rente von schätzungsweise 50 € monatlich ihr karges Leben zu organisieren. Für die allein lebende 70jährige ist das gepflegte Haus, Hof und Garten sowie die Stallungen mit Hühnern, Hund und Katzen eine wichtige und schöne Lebensgrundlage. Die angenommene Katze hat gerade zwei Junge bekommen. Das Haus befindet sich innen und außen in einem gepflegten Zustand. Die Schindeln an der Außenwand des Hauses sind gelb gestrichen. Die Wohnräume sind schön eingerichtet, die Wände sind frisch geweißt und mit einem Blumenmuster gerollt, wie man es früher auch bei uns vorfand. Man kann davon ausgehen, dass so oder ähnlich auch unsere Eltern und Vorfahren gewohnt haben. Es gibt einen großen gefliesten gemauerten Ofen mit Backröhre und weitere kleinere Kohleöfen. In der kleinen Küche gibt es inzwischen fließendes Wasser und einen Gasherd. Eine Wasserleitung hat sie sich von dem Geld, das ihr die Verwandten aus Westdeutschland zur Verfügung gestellt haben, vor wenigen Jahren legen lassen. Irma hatte Glück im Unglück. Als sie in diesem Jahr  bewusstlos in ihrem eigenen Haus lag, kam zufällig ihre Freundin Erika, ebenfalls eine Deutsche, die in der Nähe wohnt, vorbei. Als ihr nicht wie gewohnt die Tür geöffnet wurde, schlug sie kurzerhand eine Scheibe ein, fand Irma bewusstlos im Haus vor und sorgte dafür, wie ein rettender Engel, dass ihre Freundin sofort in ein Krankenhaus geschafft wurde. Bei einem Kaffee erzählte sie uns, wie sie und ihr Bruder mit einigen Frauen dafür gesorgt haben, dass die evangelische Kirche in Pojorâta vor Kurzem ein neues Dach erhalten hat. Sie selbst hat mit ihrem Bruder, der inzwischen verstorben ist, und anderen Frauen auch im Inneren der Kirche wieder alles schön hergerichtet. Fußbodendielen für weitere Instandsetzungsarbeiten liegen schon bereit. Alle vier bis fünf Wochen hält Pfarrer Krauß aus Bistritz mit einigen Gläubigen eine Andacht. Was ihr hier in Pojorâta gelungen ist, ist ihr in ihrem Heimatort Jakobeny bisher versagt geblieben. Die ehemals schöne evangelische Kirche fristet hier so ihr trostloses Dasein. Irma hat aber die Hoffnung, auch hier Ordnung zu schaffen, noch nicht aufgegeben. 

Irmas Haus in Jakobeny


Mit den Kindern zurück in eine verlorene Heimat Buchenland

Auf unsere Frage, wie sie wieder in die Bukowina kam, erzählt sie uns unter Tränen ihre Lebensgeschichte: Ihre Eltern, mit insgesamt 11 Kindern waren, wie andere Umsiedler, in einem kleinen polnischen Dorf angesiedelt worden. Hier war ihr Vater zum Bürgermeister ernannt worden, was ihm später zum Verhängnis werden sollte. Beim Näherrücken der sowjetischen Ostfront verlief die Flucht der Familie, wie bei allen anderen Flüchtlingen, ungeordnet und chaotisch. Ihr Vater begleitete die Familie, die schwangere Mutter mit elf Kindern zum Abtransport in einem Güterzug in die Ungewissheit zum Bahnhof. Seine letzten an Irmas Mutter gerichteten Worte waren: „Erziehe die Kinder weiterso in unserem Sinn“. Danach hat sie von ihrem Vater nie wieder etwas gehört. Offensichtlich ist er als Bürgermeister von den Sowjets in ein Arbeitslager deportiert worden.

Auf dem Transport nach Deutschland wurde der Waggon mit ihrer Familie zusammen mit anderen abgekoppelt und an einen Transport in Richtung Bukowina angehängt. Auf einer der vielen Stationen dieses Transports gebar ihre Mutter das 12. Kind, ein Mädchen. Hierfür holte sie auf einer Zwischenstation eine sowjetische Kommandeurin aus dem Flüchtlingswaggon. Gleich nach der Geburt wollte die Mutter mit dem Neugeborenen wieder zurück zu ihren Kindern. Einige Tage später erschien wieder die sowjetische Kommandeurin. Dieses Mal mit einem großen Korb. Der Schrecken der Mutter war sehr groß, befürchtete sie doch, dass man ihr in diesem Korb das Kind abnehmen wollte. Die Kommandeurin hingegen hatte aber etwas anderes vor. Sie ging mit diesem Korb in ein Magazin und ließ ihn mit allerlei Lebensmitteln und anderen Dingen befüllen, um ihn anschließend der Mutter zu übergeben. Dieser fiel ein Stein vom Herzen. Hierdurch verbesserten sich nun für eine bestimmte Zeit die Lebensverhältnisse der Familie. In diesem Chaos geschah an anderer Stelle des Flüchtlingstransports ein Drama. Im gleichen Transport befand sich auch eine allein lebende Mutter mit ebenfalls 12 Kindern. Das Schicksal wollte es, dass die Mutter dieser Kinder nach einer schweren Krankheit verstarb. Für Irmas Mutter war es selbstverständlich, nun auch diese 12 Kinder aufzunehmen, ohne darüber nachzudenken, wie das wohl ausgehen könnte. Nun hatte die alleinstehende Frau und Mutter neben ihrem Neugeborenen und 11 Kindern, 12 weitere fremde Kinder hinzu bekommen. Sie war nun also eine Frau und Mutter mit insgesamt 24 Kindern. Man mag sich kaum vorstellen, wie unter normalen Umständen 24 hungrige Mäuler zu stopfen sind. Vor allem, wie diese Kinder mit allem was notwendig war zu versorgen waren. Schon gar nicht kann man sich die Situation dieser Großfamilie auf einem chaotisch verlaufenden Transport in die Ungewissheit vorstellen. Die Frau mit ihren 24 Kindern schlug sich durch, weil es überall  hilfsbereite Menschen gab, die ihre schwierige Situation erkannten und der Familie Hilfe zukommen ließen. Als die Großfamilie Wochen später in Wama in der Bukowina ankam, nahm das Drama seinen weiteren Verlauf. Die Frau mit ihren 24 Kindern, darunter ein Neugeborenes sowie das verbliebene Gepäck, fand sich in kalter Jahreszeit auf dem verlassenen Bahnhof von Wama wieder. Es dämmerte schon und es war nasskalt, als der Bahnhofvorsteher von Wama auf die Großfamilie traf. Nach Schilderung der schwierigen Situation, wusste der Bahnhofvorsteher, dass er die Familie nicht allein ihrem Schicksal überlassen konnte. Dass einzige was er diesen vielen Menschen in diesem Moment anbieten konnte, war ein leerer Raum im obersten Dachgeschoss des Bahnhofgebäudes. Hungrig und trotzdem erleichtert, suchte jeder einen Platz auf dem Fußboden, um erst einmal zur Ruhe zu kommen. Zumindest war es hier trocken und man wärmte sich gegenseitig. Die mitgebrachten Kleidungsstücke dienten als Unterlagen und zum zudecken. Die nächsten Tage konnte die Familie in diesem Raum bleiben. Durch die Unterstützung von Menschen, die diese Notsituation  erkannten, konnte die Großfamilie einige Zeit überleben. Wie, kann man sich nur schwer vorstellen. Schließlich suchte die Mutter nach einer Lösung. Was kam ihr da anderes in den Sinn, als den Ausgangspunkt und Heimatort ihrer Herkunft aufzusuchen und nach Pojorâta zurückzukehren. Nur hier brachte die Gemeindebehörde, aber auch die Bevölkerung der Familie kein Verständnis entgegen. Inzwischen hatte man sich von den Deutschen und ihrem alten Regime abgewandt. Die von den Deutschen verlassenen Häuser wurden inzwischen von Rumänen bewohnt. Im Ort selbst befanden sich nur noch ganz wenig deutsche Familien. Einige waren zurückgeblieben und andere, wie sie, wieder zurückgeschickt worden. Viele waren inzwischen nach Sibirien deportiert worden. Schließlich fand die Familie ein altes verfallenes Haus ohne Fenster und Türen und ohne Ofen. So kauerte man sich in windgeschützte Ecken des Hauses und deckte sich mit mitgebrachter Kleidung zu. Wie Engel Gabriel erschien eines Tages ein verbliebener Bekannter bei der Familie und bot seine Hilfe an. Als erstes schloss er notdürftig Türen und Fenster des Hauses. Entweder wurden Öffnungen einfach zugenagelt oder alte Fenster und Türen eingesetzt. Auch ein alter Ofen wurde besorgt. Die Kinder der Familie strömten aus, um Holz zu sammeln und etwas Essbares zu besorgen. Irgendwie hat man auf diese seltsame Weise den ersten strengen Winter überlebt. Zur Überraschung der Familie erschien im nächsten Frühjahr ein Rumäne mit einer Bescheinigung der Gemeindeverwaltung, in der stand, dass ihm das Haus, das inzwischen von der Familie und ihrem Bekannten notdürftig hergerichtet und bewohnt worden war, übertragen worden sei. Wie Obdachlose musste man sich wohl oder übel dieser Situation beugen. Nachdem man ein anderes altes unbewohntes und unbrauchbares Haus fand, räumte man erzwungenermaßen das Feld. Wieder begann alles von vorn. Wieder trat der gute Bekannte in Aktion und richtete auch dieses Haus wieder notdürftig her. Da der Sommer bevorstand, hatte man etwas mehr Zeit für die provisorische Herrichtung des Hauses. Auch die Beschaffung von Nahrungsmitteln war jetzt leichter und auch besser geübt. Für den nächsten Winter war man wieder gewappnet, wenn auch nur sehr notdürftig. Irgendwie gelang es der 25köpfigen Großfamilie zu überleben. Sicher gab es auch immer wieder freundliche und hilfsbereite Menschen, die die Familie unterstützten. Als im nächsten Frühjahr plötzlich ein Geistlicher erschien und der Mutter abermals eine Bescheinigung der Gemeinde vorlegte, in der stand, dass ihm dieses Haus zugeteilt wurde, verweigerte die resolute Frau die Herausgabe des Hauses. Wohl auch nur, weil es sich um einen Geistlichen handelte. Der Geistliche zog von dannen und ward nie mehr gesehen. Die Familie bekam ihre Probleme zunehmend besser in den Griff, ob als Selbstversorger oder mit Unterstützung anderer. Später in den 50er Jahren erschien eine Frau aus Westdeutschland. Es war die Schwester der verstorbenen Mutter der hinzugekommenen 12 Kinder. Sie hatte den Auftrag, die Kinder ihrer verstorbenen Schwester mit nach Westdeutschland zu holen. Da sie gut vorbereitet war, dauerte es nicht lange und die 12 Kinder verließen ihre bisherige Großfamilie und gingen mit ihrer Tante in die Bundesrepublik. Hierdurch verbesserte sich die Lebenssituation der Verbliebenen abermals. Die Kinder besuchten bald die rumänische Schule. Zu Hause wurde in der Zipser Familie immer Deutsch oder Zipser Dialekt gesprochen, den die aus der Zips eingewanderten Bergleute mitgebracht hatten. Später sind einige Kinder der Familie ebenfalls nach Westdeutschland ausgereist. Die Mutter und ein Teil ihrer Kinder blieben aber in der Bukowina. Die Situation verbesserte sich, die Kinder heirateten und man konnte ein den dortigen Verhältnissen angepasstes Leben führen. Die kuragierte Mutter, die diese einmalige Energieleistung vollbracht hatte, ist vor einigen Jahren mit 102 Jahren verstorben. Einige der Kinder sind inzwischen im Erwachsenenalter verstorben, andere leben mit ihren Familien in Westdeutschland. Irma lebt allein in Jakobeny, nachdem ihr Bruder verstorben ist. Sie will hier bleiben.  

Alfred Wanza – September 2012