Erinnerungen an Peter Lehner

Peter Lehner, Erinnerungen eines Bukowina-Zeitzeugen aus Czernowitz (Bukowina)

Geboren in Czernowitz mit Stationen in Pommern (heute Polen), Österreich, Deutschland und der Schweiz


Peter Lehner (2018 verstorben)
Peter Lehner (2018 verstorben)

Anlässlich eines Berlin-Aufenthaltes besuchte ich im Juni 2012 Dipl.-Ing. Architekt Peter Lehner, der seit 10 Jahren neben seinem Hauptwohnsitz in der Schweiz in Berlin, bei seiner Frau Gabi, seinen zweiten Wohnsitz etabliert hat. Peter Lehner wurde 1926 in Czernowitz geboren und hat als Czernowitzer Jugendlicher zusammen mit seinen Eltern die Umsiedlung erlebt. Er kann sich gut an die Erlebnisse aus seiner Kindheit in Czernowitz erinnern. Gespannt hörte ich den Erzählungen von Peter Lehner zu. Seine Erinnerungen gehen in eine Zeit zurück, in der im täglichen Leben in der Stadt noch die Ausprägungen der alten Bukowiner Zeit wahrnehmbar waren. Der Glanz und die Einmaligkeit, die das Herzogtum aus der Österreichischen Zeit hinterlassen hatte, waren noch überall spürbar, obwohl der Einfluss der Rumänen zunehmend neue Akzente setzte. Die Unterschiede im täglichen Leben zwischen der österreichischen und der rumänischen Zeit waren nur noch von Zeitzeugen aus der alten Kaiserzeit wahrnehmbar. Die damals hier noch lebenden Deutschen, wie auch die anderen Ethnien, akzeptierten diesen Zustand und stellten ihr Leben darauf ein. So auch die Eltern und Großeltern von Peter Lehner. Mehrsprachigkeit, Toleranz und kultureller Austausch gehörten nach wie vor zum täglichen Leben. Professoren, Schauspieler, Offiziere und Beamte hatten Czernowitz inzwischen zum Teil verlassen. Die gute wirtschaftliche und finanzielle Situation seiner Eltern trug sicherlich auch dazu bei, mit den nun gegebenen Verhältnissen klar zu kommen. Sein Vater war angesehener Architekt, Bau- und Lehrmeister in der Stadt. Neben einem Lehrstuhl an der örtlichen Gewerbeschule, konnte er seine gestalterische Freiheit beim Planen und Bauen neuer Häuser ausleben und sein Wissen an seine Studierenden weitergeben. 1930 baute der Vater Josef Lehnerfür seine Familie in der Nähe des Volksgartens in Czernowitz ein modernes großes Haus im Bauhausstil. In Czernowitz und   Umgebung, sowie im Kurort Dorna Vatra entstanden Häuser nach seinen Plänen. Ein wesentlicher Auftraggeber war der vermögende Religionsfond der orthodoxen Kirche. Seine Mutter Margarethe war Malerin und Puppenmacherin, die mit ihrer Kunst nicht an die Öffentlichkeit trat. Die gute Reputation, die vielen multinationalen Kontakte und das große Interesse am kulturellen und künstlerischen Leben in der Stadt bescherten der Familie eine interessante und unbeschwerte Zeit. Die Tatsache, dass die Verwaltungen und das Schulwesen in rumänischen Händen lag, hatte nur zum Teil keinen wesentlichen Einfluss auf das wirtschaftliche und kulturelle Leben der dort lebenden Deutschen. Auch die Juden pflegten die deutsche Kultur und fühlten sich den Deutschen zugeneigt. Einflüsse aus dem fernen Deutschland kamen hier nur abgeschwächt an und waren nicht von großem Interesse. Wien war gefühlsmäßig immer noch näher, als Bukarest. Die Dramatik des Geschehens bekamen die Menschen später zu spüren.

Der aus Wien stammende Großvater Wilhelm Lehner wurde 1891 von den Sozialdemokraten Österreichs nach Czernowitz beordert, das Gedankengut der seinerzeitigen Sozialdemokraten in der Hauptstadt der Bukowina zu präsentieren. Wie weit ihm das als Buchdrucker einer Deutschen Tageszeitung gelungen sein mag, lässt sich heute nicht mehr ermitteln. In Czernowitz heiratete er jedenfalls 1893 eine Frau polnischer und ukrainischer Abstammung, die sich sehr schnell mit der deutschen Sprache und der deutschen Kultur identifizierte. Schon ein Jahr später wurde der Vater von Peter Lehner geboren. Dieser besuchte später das Gymnasium und begann 1913 das Architekturstudium an der TH in Wien. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er sich freiwillig, um die Waffengattung wählen zu können. Er kämpfte ab 1916 in den Dolomiten und war dort mit Luis Trenker im Einsatz, mit dem er bis zu seinem Tod Kontakt pflegte. Er war bei Kriegsende Oberleutnant und setzte dann sein Studium in Wien fort. Nach Abschluss des Studiums in Wien kehrte er 1922 wieder nach Czernowitz zurück und heiratete Margarethe Olszewski, die Schwester seines gefallenen besten Schulfreundes. Deren Eltern waren Elisabeth geb. Mathias und Anton Olszewski, der aus Wijnitz stammte, wo sein Vater Bürgermeister war und eine Schmiede betrieb, die er später zu einem Wagen- und Kutschenbau ausbaute, der in Czernowitz eine Filiale besaß. Peters Vater startete seine berufliche Laufbahn, die er, wie eingangs geschildert, durch ein Lehramt an der Gewerbeschule in Czernowitz begann und im Rahmen seiner Tätigkeit als freier Architekt fortsetzte. Die Erziehung von Peter Lehner und seinem älteren Bruder Reinhold wurde in der Folgezeit auch von seiner polnischen Großmutter geprägt, die großen Wert darauf legte die Buben deutsch zu erziehen. Noch heute denkt er gern an die Zeit zurück, die er mit der Mutter seines Vaters verbrachte. Die Eltern mütterlicherseits lebten in dem kleinen bukowinischen Dorf Usziriki, nahe Wijnitz, 80 km von Czernowitz entfernt, in dem der weiße und schwarze Czeremosz zusammenfließen. Der Großvater beschäftigte sich mit   Holzwirtschaft und nebenbei mit  Malerei und Musik und finanzierte das Studium der Malerei seines 20 Jahre jüngeren Bruders in München. Dieser Bruder wurde der weit über die Grenzen bekannte Maler Karl Ewald Olszewski, der als Vogelmaler berühmt wurde. Leider vollzog er nicht den „Sprung ins kalte Wasser“, also in die „Moderne“. Ein schönes Jugendbild von seiner Mutter besitzt er noch heute. Diese, aber auch Peter selbst, haben ein Stück dieser künstlerischen Veranlagung geerbt. Von seiner Mutter filigran gefertigte Scherenschnitte und Bilder von seinem Großvater, aber auch von Peter Lehner selbst gemalte Bilder sind erhalten.

Als Peter Lehner eingeschult wurde, kam er als kleiner Bub bereits nach dem ersten Schultag weinend nach Haus, um seiner Großmutter und seinen Eltern zu erzählen, dass er niemanden verstanden habe. Und wie auch, er konnte nicht rumänisch und wurde als Erstklässler in eine rumänische Schule eingeschult. Sein Vater wusste aber sehr schnell diesen Zustand zu heilen. Er schulte den kleinen Peter in eine Privatschule ein. Diese kleine Schule, in der hauptsächlich Deutsch unterrichtet wurde, umfasste mit vier Klassen insgesamt etwa 100 Schüler. Neben Polen, Italienern und Deutschen gingen überwiegend jüdische Kinder auf diese Schule. Hier fühlte er sich verstanden. Während die Deutschen, Polen und Italiener eher zu den Wohlhabenderen zählten, entstammten die jüdischen Schüler ärmeren Familien. Es machte für Peter Lehner überhaupt keinen Unterschied, dass sich unter seinen Schuldfreunden wohlhabendere Deutsche und Polen oder ärmere Juden befanden. Er erinnert sich noch sehr gut an seinen jüdischen Freund Adolf Brauner, der Klassenprimus war. Der Vater hatte in einem Kellergeschoss im unteren Teil von Czernowitz, in dem überwiegend die ärmeren jüdischen Familien lebten, eine Flickschusterei. Wenn er heute daran denkt, kommen ihm die Gerüche von Leder, Farbe und Leim wieder in den Sinn. Die vier Jahre Grundschule waren schnell vorbei und Peter kam auf das sogenannte Deutsche Gymnasium, bei dem es sich aber inzwischen um ein staatliches rumänisches Gymnasium handelte. Aber immerhin, hier gab es noch einige Fächer, die in Deutsch unterrichtet wurden. Um sein strapaziertes Deutsch wieder einigermaßen zu reparieren, bekam Peter einen „reichsdeutschen“ Hauslehrer und als Weihnachtsgeschenk einen Duden statt der erhofften Märklin-Eisenbahn. Um später die Aufnahmeprüfung für das Rumänische Gymnasium zu umgehen, wechselte er bereits in der letzten laufenden Klasse auf das neue Gymnasium: Liceul Aron Pumnul.

Peter Lehner kann sich noch sehr gut an das Leben in Czernowitz erinnern, dass sehr vielfältig und interessant war. Seine Eltern hatten viele Kontakte zu Künstlern und gebildeten Leuten verschiedenster Nationalitäten in der Stadt. Das färbte auch auf Peter ab. Er hatte ebenfalls viele Freunde in den unterschiedlichsten Schichten der Stadt. Sein Vater war Mitglied der „Czernowitzer Schlaraffen“ – eine in Prag gegründete, weltweite deutschsprachige Vereinigung zur Pflege von Freundschaft, Kunst und Humor – und, vielleicht als Ausgleich, Mitglied und später auch Obmann des Deutschen Turn- und Sportvereins Jahn, obwohl er selbst kein großer Sportler war. Aber dafür seine beiden Söhne, die jeweils schon mit sieben Jahren dabei waren. Peter war nicht nur ein begeisterter Karl-May Leser, er interessierte sich bereits in jungen Jahren für Theater, Kunst und Kultur. Er hat gute Erinnerungen an die ersten Vorstellungen im wunderschönen Czernowitzer Theater, in dem zu dieser Zeit Gastveranstaltungen von Wiener Künstlern stattfanden, während draußen rumänische nationalistische Studenten dagegen protestierten.  Die im Deutschen Haus abgehaltenen deutschen Kulturveranstaltungen besuchte er regelmäßig, spielte bei Theateraufführungen im großen Theatersaal des Hauses mit, wie z. B. als Sohn von Wilhelm Tell oder als Schubert im „Drei-Mäderl-Haus“. Es war ein vielfältiges und spannendes Leben, das sich aber ändern sollte. Sein älterer Bruder, damals 16 Jahre alt, wurde im Frühjahr 1940 zu einem Sportfest nach Breslau eingeladen um anschließend ohne Wissen oder Einwilligung der Eltern, zur Waffen-SS nach Krakau verpflichtet zu werden. Zunächst wurde er in einem Musikkorps und anschließend für den Russlandfeldzug „Aktion Barbarossa“ eingesetzt. Sein Vater wurde in der Zwischenzeit zum rumänischen Militärdienst einberufen, so dass Peter Lehner mit seiner Großmutter und seiner Mutter allein in dem großen Haus lebte. Irgendwie machte sich in dieser Zeit Unruhe breit, die ihn aber nur am Rande berührte. Als am 28. Juni 1940 die Sowjets in Czernowitz einmarschierten, trieb Peter Lehner die Neugierde an die Siebenbürgerstraße, um den Einmarsch zu beobachten. Er kann sich gut daran erinnern, wie das sowjetisches Militär singender Weise zu Fuß in die Stadt einmarschierte. Es war kein Fahrzeug, kein Geschütz zu sehen, nur singende russische Soldaten. Am Straßenrand standen nicht viele Menschen und niemand jubelte den Einmarschierenden zu. Wie man hinterher erfahren hat, hat die Besetzung durch das russische Militär unter Duldung der deutschen Regierung stattgefunden.

Einige Tage später bekam die Familie Lehner diese neue Zeit zu spüren. Es wurden drei junge russische Fliegeroffiziere mit ihren Frauen in ihrem Haus einquartiert. Sie belegten die unteren Räume des Hauses. Da sie sich auch mit Peter Lehner abgaben, wusste er schon bald, was Machorka oder Papirosse sind und was der Duft von Juchtenleder war, den man im ganzen Haus zu riechen bekam. Russisch zählen konnte er sehr schnell bis tausend. Da das Haus groß genug war, entstand kein Notstand. Die Familie begab sich auf die obere Etage des Hauses, wo noch genügend Platz vorhanden war, jeder hatte sein eigenes Zimmer, nur die Küche wurde gemeinsam benutzt. Was aber auffiel war, dass die Soldaten nach ihrem Eintreffen als erstes sämtliche Türschlüssel einsammelten und auf diese Weise für ein „offenes“ Haus sorgten. Peter Lehner hat aus dieser Zeit keine besonderen negativen Erlebnisse in Erinnerung. Einmal hat er eine Frau auf der Straße schreien hören: „Die Russen haben meinen Mann umgebracht“. Offensichtlich hat sich das sowjetische Militär nicht besonders auffällig verhalten und in aller Stille die Anpassungen durchgeführt. Allein die Anwesenheit der Russen hat aber für Unruhe in der Bevölkerung gesorgt. In der Folgezeit flammten immer mehr die Gerüchte auf, dass die Deutsche Bevölkerung Czernowitz verlassen soll.

Nach dem Molotow-Ribbentrop-Abkommen von August 1939 mit Erweiterung vom 07.09.1940 wurden dann ab September 1940 die Deutschen aus der Nordbukowina umgesiedelt. Aufgrund eines zweiten Abkommens zwischen den Regierungen in Berlin und Bukarest vom 22.10.1940 fand ab November 1940 auch die Umsiedlung der Deutschen aus der Südbukowina sowie der Dobrudscha-Deutschen aus dem Raum Constanza, Galatz und Mangalia statt. Innerhalb weniger Monate wurden so insgesamt 95.770 Deutsche aus der Nord- und Süd-Bukowina nach Deutschland und Deutsche Ostgebiete umgesiedelt
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Als die Umsiedlung feststand, versuchte der Rest der Familie, wie viele Deutsche, zumindest die Wertgegenstände zu veräußern. Großmutter, Mutter und Peter Lehner versuchten die vielen Bücher und andere Dinge zu verkaufen. Allerdings konnten in dieser Zeit hierfür keine großen Erlöse erzielt werden. Die drei russischen Soldaten im Haus empfahlen den Dreien, in Czernowitz zu bleiben, ihnen würde hier nichts geschehen. Ende September begann die Umsiedlung der Deutschen aus der Nordbukowina.

Am 10. Oktober, Peters vierzehntem Geburtstag, war der Tag der Abreise gekommen. Etwas beklommen versuchte man, sich mit dem ausgegebenen Spruch „Heim ins Reich!” Mut zu machen. In Personenzügen, mit dem zugelassenen 50 kg Handgepäck, verließ man die Heimat. Nach viertägiger Bahnfahrt gelangte die unvollständige Familie ins Auffanglager in Bad Langenau. Das Lagerleben in einem umfunktionierten Kurhotel war durchaus erträglich. Bald stieß auch der Vater Lehner, der in Bukarest mit Hilfe der Deutschen Botschaft, aus der rumänischen Armee entlassen worden war, zur Familie. Bei der dann erfolgenden „Einbürgerung” durch eine SS-Einbürgerungskommission wurde die Familie Lehner als „nicht ganz zuverlässig” eingestuft und mit dem Buchstaben „A” versehen, was „Altreich” bedeutete – im Gegensatz zu „O” – Osten! Dies obwohl Reinhold, der ältere Bruder von Peter, gerade siebzehn Jahre geworden, seit fast einem Jahr bei der Waffen-SS in Krakau Dienst tat. Der Grund dieser Einschätzung war ein skurriler. Auf die Frage eines Hauptsturmführers an die Großmutter: „Und was sind sie?” antwortete diese – ob verdattert oder absichtlich — „Polin”! Dass sie mit diesem Wort und der darauf erfolgten Einschätzung „A” das weitere Schicksal der Familie Lehner ganz wesentlich und sehr glücklich beeinflusst hatte, stellte sich erst später heraus. Schon Anfang 1941 erhielt Vater Lehner eine Anstellung als Lehrer an der Staatsbauschule in Deutsch Krone in Pommern, heute Polen. Hier erlebte Peter eine ganz andere Welt, die – trotz der Kürze – prägend auf ihn wirkte. Kameradschaft, Disziplin und Pünktlichkeit waren groß geschrieben. Die Freunde dieser doch sehr kurzen Zeit treffen sich – soweit sie noch leben – heute noch jedes Jahr zu einem dreitägigen Klassentreffen, meistens am Steinhuder Meer.

Peter Lehner erinnert sich an einen Ausspruch seines Vaters, als bei Beginn des Russlandfeldzuges im Juli 1941 die Panzerkolonnen durch das kleine Städtchen gen Osten rollten. Aktion „Barbarossa”! Dieser lautete: „Behalte das bitte für dich, Bub – dieser Krieg ist verloren!” Peters Bruder, gerade siebzehn geworden, musste diesen unsinnigen und verbrecherischen Feldzug mitmachen und wurde mit leichten Verletzungen und schweren Erfrierungen schließlich in ein Prager Lazarett eingeliefert, mit der Folge, dass er als vorübergehend dienstuntauglich in Berlin sein Abitur nachholen konnte. Josef Lehner, also Peters Vater, wurde – nicht ohne eigenes Dazutun – nach Krems a. d. Donau versetzt, um dort als Direktor einer neu gegründeten Staatsbauschule zu wirken – ein Wunder, wenn man die Kriegslage zu Ende 1942 bedenkt. Peter besuchte hier die sechste und siebente Gymnasialklasse und gewöhnte sich schnell an die etwas legerere Auffassung von Disziplin und Pünktlichkeit seiner Schulkameraden. Es waren herrliche zwei Jahre. Der obligate Dienst bei der Hitler-Jugend bestand hauptsächlich aus Wanderungen in der schönen Wachau oder Skiausflügen auf die Rax und Heimabenden an denen Volkstanz und Volkslied vorherrschten.

Drei Monate Luftwaffenhelfer in Pilsen und weitere drei Monate beim Arbeitsdienst in Krosno bei Kutno überstand der sportliche Jüngling ohne Schwierigkeiten. Er konnte noch mit seinem Bruder, der vor der Wiedereinstellung zwei Wochen Urlaub hatte, einen mehrtägigen Ausflug in die Wachau machen. Das war ihr letztes Zusammensein. Reinhold musste wieder zur Truppe und fiel im April 1945 in der Nähe von Putzig bei Danzig zusammen mit Kameraden einer Kompanie, die als Schutzschild für die Einschiffung der Division abkommandiert und zurückgelassen – also geopfert wurden.

Im Mai kam der Stellungsbefehl für Peter Lehner zur Flak-Abteilung einer Panzergrenadierdivision nach München und Anfang Dezember die Abkommandierung an die Westfront, wo dann am 16. Dezember die Ardennenoffensive begann. Wieder gab es Parolen, Eine davon hieß: „in zehn Tagen müssen wir Paris erreichen! Abgeprotzt wird nicht mehr, wir schießen nur noch von der Lafette!” Wie anders sah die Wirklichkeit aus! Es fehlte an Vielem, vor allem an Treibstoff für die Panzer, Zugmaschinen und, vor allem, für die Luftwaffe. Ende Februar war die Offensive völlig festgefahren, die amerikanischen Invasionstruppen rückten vor. Peter Lehner wurde durch einen Granatsplitter leicht verwundet und erkrankte an einer starken Bronchitis. Der Batteriechef scheint Mitleid gehabt zu haben und sorgte für eine Versetzung des Kranken zu einem Offiziervorbereitungslehrgang nach München. Dass es so etwas, so kurz vor dem vorauszusehenden Kriegsende noch gab, war verwunderlich, aber beim Militär ist alles möglich. Erst Ende März wurde der Lehrgang aufgelöst. Peter Lehner wurde einer Stoßkompanie zugeteilt – früher hieß das „verlorener Haufen“ -. Und wieder Parolen: „Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch!” In der Nähe von Kirchheim am Wagram wurde er von seinem ehemaligen Batteriechef gesehen, der ihn sofort und ohne große Formalitäten wieder in seine Truppe übernahm. Die Division war zur Verteidigung Wiens an die Ostfront geworfen worden und hat in den Kämpfen um und in Wien sehr schwere Verluste erlitten. Von den ursprünglich hundert Mann der Batterie waren nur noch sechs vorhanden.

Es kam zu keinen Feindberührungen mehr, am 8. Mai kapitulierte die geschrumpfte Division in der Nähe von Amstetten. Die Militärköpfe ließen es sich nicht nehmen, zusammen mit amerikanischen Offizieren und stramm salutierend, einen Vorbeimarsch der entwaffneten Division abzunehmen. Peter Lehner hatte das Gefühl, seine Pflicht mehr als genug erfüllt zu haben. Das gar nicht ferne zu Hause in Krems lockte. In der Nähe von Enns, in den Donauauen, war das nunmehr gefangene Heer zusammengezogen. Man konnte das Rauschen der Donau hören. Lehner wundert sich heute noch mit welcher unglaublichen Selbstverständlichkeit er den Uniformrock auszog, am amerikanischen Wachposten mit einem „goodbye”, das dieser verblüfft mit demselben Worten quittierte, vorbeiging und mit dem Wissen, die Donau fließt in Richtung Krems, eine viertägige Flucht begann. Die Gefährlichkeit dieses Unterfangens lässt Peter Lehner noch heute einen Schauer über den Rücken laufen und er glaubt seither fest an Schutzengel. Am 12. Mai, es war Muttertag, erreichte er die elterliche Wohnung, der Jubel war unbeschreiblich.

Mit der sowjetischen Besatzung gab es in Krems keine größeren Schwierigkeiten, der kommandierende General mit dem deutschen Namen Wolkenstein sorgte weitgehend für Disziplin. Im September wollte sich Peter an der Technischen Hochschule in Wien inskribieren. Der Pedell verlangte einen „Entlassungsschein”, ohne den eine Inskription nicht möglich sei. Da entdeckte Peter auf einer Tafel mit Namen des Lehrkörpers einen, der ihm bekannt vorkam. Prof. Merinski, Dekan der Fakultät für Architektur, war ein ehemaliger Studienfreund des Vaters – und schon war dieses Problem gelöst. Schutzengel, Schicksal, oder nur Glück? Im Jahr 1951 beendete Peter Lehner sein Studium und wurde von seinem Professor Boltenstern in sein Architekturbüro aufgenommen. Im gleichen Jahr heiratete er die Wienerin Alice Breuner – die kirchliche Trauung fand am 24. Dezember in Oberndorf bei Salzburg statt, dem Ort wo einst das Weihnachtslied „Stille Nacht” entstanden ist.

Vater Lehner war inzwischen von seinem Posten in Krems, mit der Begründung er sei „Deutscher Staatsbürger”, entlassen worden. Sein Einwand, er sei in Österreich geboren, sein Vater sei Wiener gewesen und er selbst österreichischer Offizier im Ersten Weltkrieg, wurde mit der Begründung abgelehnt, er sei 1941 Deutscher geworden. Dass die Österreicher zu diesem Zeitpunkt auch „Deutsche” waren, hatten die amtierenden Beamten damals am liebsten vergessen. Ein Wohnungstausch ermöglichte ihm den Umzug nach dem geliebten Wien, „Die Stadt aller Träume!”. Die beruflichen Veränderungen begleiteten Peter Lehners Vater und damit auch die Familie ein Leben lang. Die nun folgenden Jahre bei Baufirmen in Wien und Salzburg nutzte er nebenbei, um an der TH in Wien sein Doktorat zu machen. Er bewarb sich um die ausgeschriebene Stelle des Direktors der Fachhochschule für Bauwesen in Regensburg, die er auch erhielt und bis zu seiner Pensionierung 1959 innehatte. Es folgten danach sieben Jahre in Laufen an der Salzach, dann zogen Josef und Margarethe Lehner in ein von Peter gebautes Haus in den Weinbergen von Grenzach ein, am deutschen Rheinufer liegender Nachbarort von Basel. Mutter Lehner starb 1966, Peters Vater 1980. Sie liegen beide am Friedhof am „Hömli” in Riehen bei Basel.

Nun wieder zu Peter Lehner. Er folgte 1953 dem Ruf des Vaters, der ihn gern nicht nur bei sich, sondern auch in seinem Lehrkörper gehabt hätte, nach Regensburg. Aber die Stadt schien ihm nach den neun Jahren Wien, die er trotz Zerstörungen, Vier-Mächte-Besatzung, und Lebensmittelknappheit als eine herrliche Zeit empfand, zu eng. Dem Angebot eines Schweizer Studienkollegen, eine Bauleitung bei dem Verwaltungsgebäude der Basler Lebensversicherung am Opernplatz in Frankfurt zu übernehmen, dass das Architekturbüro vom Vater des Freundes geplant hatte, konnte er nicht widerstehen. Es kamen zwei schwere berufliche Jahre, weil er ohne Erfahrung in Bauleitung, höllisch aufpassen musste, privat weil seine Frau, infolge eines Doktorfehlers, ihr Kind verlor. Es wäre ein Alexander geworden.

Als der Auftrag in Frankfurt beendet war, bot das Büro in Basel Peter Lehner eine Stelle als Entwurfsarchitekt an. Die Chance, eine Anstellung als Dozent an der Fachhochschule in Konstanz anzutreten, ließ er ungenutzt. Das mag ein Fehler gewesen sein, erlaubt er sich zu bemerken.. Nach zwölf sorglosen Jahren im Büro Vischer hatte Lehner das Gefühl, sich selbständig machen zu müssen. Das war vielleicht auch ein Fehler, denn sein Freund verstarb wenig später und er hätte das alt eingesessene Büro übernehmen können. Ohne Beziehungen durch Schul- und Studienfreundschaften, Militärfreunde, Großfamilie, etc. war die Auftragslage nicht immer gesichert. Es waren trotzdem sehr schöne und befriedigende Jahre”. sagt Peter Lehner lächelnd und fährt fort: „Die Pflege der Freundschaft ist etwas äußerst wichtiges im Leben!” Auch in dieser Zeit pflegte er Kontakt mit den in alle Winde zerstreuten Familienangehörigen. Mit seinen „Jahnern”, an deren alljährlichen Treffen er öfters teilnahm, mit Bukowiner Landsleuten, seinem Patenonkel, dem Dichter Georg v. Drozdowski, sowie mit Freundschaften seiner Eltern, die inzwischen der demographischen Entwicklung zum Opfer gefallen sind, wie z.B. der jüdischen Familie Zappler, die den Krieg überlebt hatte, und mit Hilfe von Peters Vater 1949 nach Wien gekommen war. Zum 100. Geburtstag der Witwe, die in einem Altersheim in Wien lebte – Prof. Zappler war schon 1980 verstorben – fuhr Peter Lehner mit seiner Frau Gabriele 2003 nach Wien. Frau Lilly übergab ihm ihr Fotoalbum mit interessanten Bildern aus der Kriegszeit, weil sie annahm, ihre Verwandten in Israel hätten andere Sorgen als dieses zu beschauen.

Im Februar 2000 verstarb seine erste Frau. Seine Tochter lebt in Kanada, wo er sie und ihre zwei Söhne früher fast jedes Jahr besuchte, sein Sohn, der inzwischen verstorben ist, hatte andere Pläne und zog in die Ost-Schweiz und so ergab es sich von selbst, dass er seinen geliebten Beruf weitgehend „an den Nagel hängte!” Er war inzwischen 74. Auf einer Kreuzfahrt mit Freunden auf der Elbe lernte er seine jetzige Frau kennen, heiratete im Jahr 2003 und lebt nun abwechselnd in ihrem Haus in Berlin oder in seinem Schweizer Domizil.

Peter Lehner ist aber bei all seinem Schicksal und all seiner Bescheidenheit ein schöner Lebensabend vergönnt. Hier in Berlin hat er sehr schnell Fuß gefasst. Die Familie seiner Frau, die hier ansässigen „Schlaraffen”, die Bukowiner Landsleute in Berlin, zu denen die verstorbene Schriftstellerin Genunea Musculus gehörte, haben einen Beitrag dazu geleistet.  Die vielen Freunde in Süddeutschland und der Schweiz sind keinesfalls vergessen. Seit Jahren ist er – ganz ungewollt – Vorsitzender der nur 20 Mitglieder der Landsmannschaft der Bukowiner in Berlin. Einmal im Jahr kommen sie zu einem Gedankenaustausch im Hause der Familie Lehner zusammen. Mit seinen 86 Jahren lebt Peter Lehner bei guter Gesundheit zusammen mit seiner Frau in einem schönen Ambiente und genießt viele Reisen, die von seiner Frau organisiert werden.


Czernowitz hat das Ehepaar schon häufiger besucht und dabei vor drei Jahren, in der ehemaligen „Burg der Schlaraffen” im Deutschen Haus, der „Buchenfeste”, die jetzt als Gedenkstätte für seinen Paten ,,den Dichter Georg Drodzdowski“ dient, mit befreundeten Schlaraffen aus Deutschland und Österreich und drei Professoren der Czernowitzer Universität, eine Gedenkfeier veranstaltet. Das Czernowitzer „Reych” der Schlaraffen, die „Pruthana”, ist 1940, als Folge der Umsiedlung, untergegangen. Im Augenblick arbeitet er an einer Chronik über die Pruthana und das alte Czernowitz. Er setzt sich nach wie vor mit der Geschichte seiner ersten Heimat auseinander, malt, schreibt und musiziert.
Als mir Peter Lehner den Inhalt seines noch nicht verlegten Krimis erzählte, wurde mir deutlich, dass das ein Erfolgsroman werden könnte. Ich habe ihm Mut gemacht,  den Roman zu veröffentlichen.

Peter Lehner hat sich die drei „Ideale” der Schlaraffen, die da sind: „Freundschaft, Kunst und Humor” auch im profanen Leben zu eigen gemacht, wobei er die Freundschaft für das Wichtigste hält. Er findet: „Wer sich diese Ideale zu eigen macht, bei dem kann nichts schief gehen!”

Alfred Wanza, Juni 2012