Nachkriegszeit

Nachkriegserinnerungen eines Flüchtlingskindes aus Ostdeutschland

Vorwort

Wie ein roter Faden zieht sich Fredis Kurzsichtigkeit durch seine Kindheit. Seiner Mutter bringt er nach einem ärztlichen Sehtest einen Zettel mit nach Hause, dem schenkt sie keine Aufmerksamkeit. Niemand versteht das Auf und Ab in seiner Klasse. Wenn er in der ersten Reihe sitzt schreibt er gute Noten. Leider verbringt er die meiste Zeit in den hinteren Bankreihen. Erst nach der Schule behebt er seine Sehschwäche. Jetzt kann er aufatmen. Er versucht Versäumtes nachzuholen.

Die Erlebnisse und kleinen Abendteuer in seiner Kindheit auf dem Dorf sind eine glückliche Fügung. Weil seine alten Eltern mit dem Aufbau einer neuen Existenz beschäftigt sind und seine Fluchterlebnisse kennen, räumen sie ihm neben kleinen Aufgaben viel Freiheiten ein. Das führt  zum Vergessen seiner traumatischen Erlebnisse. Verarbeitet hat er sie aber erst nach 70 Jahren in diesem Buch.

In einem Bauerndorf vor der Haustür Köthens in Sachsen Anhalt findet Fredi und seine Familie mit anderen Leidgenossen nach der Flucht ein neues zu Hause. Ein Vorübergehendes, wie sich im Nachhinein herausstellen wird. Mit dem Dorfplatt fällt Fredi nach der Ausreise in der Schule in Westdeutschland auf. Er muss feststellen, dass im Westen in den fünfziger Jahren Ostdeutschland und die DDR ein unbekanntes Land sind. Man kennt es auch geographisch nicht. In Ost und West gehen die Uhren jeweils anders. In Ostdeutschland werden Flüchtlinge Umsiedler genannt. Fredis Eltern kommt diese Bezeichnung entgegen, weil sie 1940 bereits ihre Heimat Buchenland als Umsiedler verlassen haben.

Fredis Eltern und Geschwister finden nach der Vertreibung im September 1945 in Sachsen Anhalt Zuflucht. Hier wagt die Familie nach einer längeren Odyssee einen Neuanfang. Die Teilung Deutschlands, die für die Menschen neu ist, wird von ihnen als Schicksal hingenommen. Die Bezeichnungen Ost- und Westdeutschland oder Ost- und Westzone dokumentieren im Alltag die innerdeutsche Grenze. Es ist eine Zeit voller Umbrüche, die Fredi im dritten Lebensjahr noch nicht versteht. Gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern lassen sich die Sorgen und Nöte etwas leichter ertragen. Die vielen neuen Eindrücke verdrängen sein Fluchttrauma und eröffnen ihm den Weg in die kindliche Freiheit. Alfred Wanza berichtet über seine Erinnerungen und Erlebnisse in den Jahren 1945 bis 1955 in Ostdeutschland und schildert die Nachkriegssituation in dem Dorf. 1955 reist er mit seinen Eltern zu seinen Geschwistern nach Westdeutschland aus. Später muss er feststellen, dass die Bezeichnung „Goldener Westen“ eine Wunschvorstellung der Menschen in Ostdeutschland war.

Fredis Familie 1937 (6 Jahre vor seiner Geburt) im Garten in der Bukowina

Erinnerung zur Herkunft der Familie

Die Vorfahren

Mit knapp drei Jahren kam Fredi nach geglückter Flucht mit seiner Familie in dem kleinen Bauerndorf Kleinpaschleben, dass zwischen Köthen und Bernburg liegt, an. Er hatte bereits erwachsene Geschwister und war als Nachkömmling das jüngste Mitglied in der Familie. Seine Familie hatte in den vergangen  Jahren  zweimal alles verloren. Die Vorfahren seiner Mutter hatten sich im 17. Jh. von Bayern kommend in Böhmen angesiedelt. Als sich die wirtschaftliche Situation in Böhmen verschlechterte und die Habsburger Monarchie Siedler zur Erschließung der annektierten Bukowina suchte, zog es sie Ende des 18. Jh. dort hin. Auch die Vorfahren seines Vaters zog es später aus der Zips in der Slowakei in die gleiche Richtung. Unter den Habsburgern, die bis 1867 zum Deutschen Bund gehörten, stieg die Bukowina auf. In der am östlichen Karpatenbogen liegenden Bukowina lebte die deutsche Minderheit, die ihre Heimat Buchenland nannte, mit anderen Völkern mit verschiedenen Religionen unter deutscher Verwaltung und mit deutschen Schulen friedlich zusammen. Die prosperierende Wirtschaft in der Bukowina zog viele Menschen an. Nach dem Ersten Weltkrieg ging die Habsburger Monarchie unter und das Herzogtum Bukowina wurde Rumänien zugesprochen. Als Fredis Eltern nach dem Ersten Weltkrieg heirateten, dachten sie nur noch mit Wehmut an die Österreichische Zeit. Sein Vater kam aufgrund eines Durchschusses seines Handgelenks mit einer Kriegsverletzung aus dem Krieg zurück. In den Anfangsjahren unterstützte die rumänische Regierung durch Überlassung von Baugrundstücken noch die deutsche Minderheit. Auch Fredis Eltern profitierten davon und wagten es als junge Familie, nach der Geburt des ersten Kindes, ein Haus zu bauen. Auf ihrem Anwesen zwischen Wäldern und Gebirgsfluss kümmerte sich seine Mutter um die Kinder, das Vieh und den Gartenbau. Vieh und Gartenbau dienten als Haupternährungsquelle. Mit Webstuhl und Nähmaschine wurden viele Kleidungsstücke selbst hergestellt. Fredis Vater, der dem Bergbau der deutschen Zips entstammte, arbeitete als Sprengmeister in einem nahegelegen Steinbruch bei einer jüdischen Firma. Das raue Leben, ohne Elektrifizierung und ohne soziale Versorgung, verlangte den Familien viel ab. Von den sechs Kindern der Familie starben zwei an Infektionskrankheiten. Im rumänischen Königreich verschlechterte sich für die deutschen Bewohner zunehmend die Situation, obwohl die alten Lebensgewohnheiten unter den Menschen bestehen blieben. Die Toleranz der Bewohner hatte eine Atmosphäre geschaffen, die die neuen Machthaber mittragen mussten, obwohl sie die deutsche Amtssprache und deutschen Schulen abschafften.

Die Umsiedlung

In den vierziger Jahren wurde auch in der Heimat seiner Eltern über Hitler und die Nationalsozialisten gesprochen. Da  in der Bukowina, in der die Minderheiten mit den Einheimischen gut zurecht kamen, die Rumänisierung umgesetzt werden sollte, wurden  junge  Deutsche für das Naziregime empfänglich. Die Älteren blieben dagegen sehr misstrauisch. Nach der Besetzung der Nordbukowina durch die sowjetische Armee im Jahr 1940 blieb den Deutschen nichts anderes übrig, als dem Ruf der Nationalsozialisten „heim ins Reich“ zu folgen. Da den deutschen Bewohnern der materielle Ausgleich für Hab und Gut zugesichert wurde, ließen sie schweren Herzens alles, wofür sie ein Leben lang gearbeitet hatten, zurück. Schon bei der Ankunft in den Zwischenlagern in der Tschechei wurde ihnen bewusst, dass sie belogen wurden. In den von den Nazis geführten Lagern, in denen alles herzlos und bürokratisch ablief, fiel die Stimmung der Menschen, nicht nur wegen der Unterbringung in den Sammelunterkünften, auf den Nullpunkt. Ihnen wurde klar, dass sie missbraucht wurden. Sie sollten das gerade eroberte Polen besiedeln, die Rüstungsindustrie stärken und ihre Söhne der Wehrmacht überlassen.

Das Drama begann, als den Umsiedlern die Häuser der polnischen Eigentümer, die meist zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht wurden, nach der Devise „Polen raus, Deutsche rein“, zugewiesen wurden. Trotzdem versuchten die Buchenländer, die es gewöhnt waren mit Menschen anderer Nationalität zusammenzuleben, diese schwierige Zeit zu überstehen. Die Kooperation mit Einheimischen gefiel den Nazis überhaupt nicht. Auch Fredis Eltern lebten in einem einsam gelegenen polnischen Hof, den sie als Ersatz für das verlorene Eigentum zugewiesen bekamen. In dieser Unwirtlichkeit wurde Fredi im Januar 1943 in Saybusch geboren. Zum Zeitpunkt seiner Geburt war seine Mutter bereits 45 Jahre und sein Vater 48 Jahre alt. Ein Jahr später war sein Bruder, der von der Ost- zur Westfront versetzt wurde, zu Besuch und ernannte Fredi als seinen Nachfolger. Er ahnte, dass er aus diesem Krieg nicht mehr zurückkommen würde. Nach einem kurzen Einsatz ist er 1944 in Frankreich gefallen. Vor Kriegsende wehrte sich Polen mit allen Mitteln gegen die deutsche Besetzung. Obwohl die polnischen Partisanen polenfreundliche Deutschen kannten, bestand die Gefahr, dass Deutsche von polnischen Partisanen aus anderen Regionen überfallen wurden. In dieser Zeit hat Fredis Vater mit dem Karabiner, den ihm sein Sohn überlassen hatte, von der Scheune aus den Hauseingang überwacht.

Die Flucht

Da die Nazis die Menschen als Schutzschild benutzten, gingen sie nur spärlich mit neuen Informationen und der Wahrheit um. Dadurch ergriffen die verunsicherten deutschen Bewohner die Flucht häufig erst sehr spät. Schon zwei Jahre nach seiner Geburt erlebt Fredi diese chaotische Zeit, die mit der noch schrecklicheren Flucht in einem offenen Güterwaggon endete. Eine Trauma-Psychologin erklärte ihm später, dass dramatische Erlebnisse in der Kindheit, die sich innerhalb eines Sozialverbandes abspielen, keine negativen Folgen hätten. Wer weiß das schon genau? Sein Vater hatte mit Pferden und Wagen und etwas Hab und Gut in einem Treck etwas früher den Ort  verlassen. Überflüssiger Weise nahm er den ihm überlassenen Karabiner mit auf den Weg, weil er den Treck vor Plünderungen bewahren wollte.

Die Flucht, an die sich Fredi nicht erinnert

Erst nach mehr als sechzig Jahren lernte Fredi eine Frau kennen, die nicht nur im Alter seiner Geschwister war, sondern auch aus dem gleichen Heimatort stammte und der gleichen Flüchtlingsgruppe angehörte. Sie hatte, ähnlich wie seine Geschwister, Ostdeutschland früher verlassen. Von Angela konnte er viel über die Heimat seiner Eltern und Geschwister, die nicht mehr lebten, in Erfahrung bringen. Nun hatte er jemanden gefunden, der ihm auch etwas über die Fluchterlebnisse berichten konnte, an die er sich nicht mehr erinnert.

Wie geschildert, verließ sein Vater mit Pferden und Wagen in den ersten Monaten des Jahres 1945 mit einem Treck den Ort. Unbewusst hatte er seine in Wien lebende Schwester als Ziel ausgesucht. Es wurde nur ein kurzer Besuch, weil Wien in Schutt und Asche lag. In Linz stellte er später Pferde und Wagen ab und versuchte seine Familie zu erreichen. In der Zwischenzeit löste die heranrückende Sowjetarmee chaotische Situationen aus, so dass Fredis Mutter mit ihm und seinen Geschwistern Hals über Kopf an den Ort in die Tschechei flüchteten, wo sie nach der Umsiedlung im Lager untergebracht waren. Zufällig hatten auch andere Buchenländer den gleichen Gedanken. Sie hatten Glück, in Altschiedel in der Tschechei in der Nähe von Reichstadt eine vorübergehende Bleibe zu finden. Ein Gastwirt und eine alte Frau, die etwas für Deutsche übrig hatten, überließen ihnen ein kleines Haus. Weil es Tschechen waren, die Deutschen geholfen und sie vor den Russen versteckt hatten, waren sie selbst in Schwierigkeiten geraten und baten sie den Zufluchtsort zu verlassen. Dabei überließen sie ihnen einen Handwagen mit einer schweren Kiste unbekannten Inhalts. Die fünf Familien wurden am 1.6.1945 von den Tschechen des Landes verwiesen. Humanerweise stellte man ihnen einen offenen Kalkgüterwaggon zur Verfügung, der an Züge in Richtung Deutschland angehängt wurde. So gut es ging versuchten sich die Familien mit ihrem Gepäck und der schweren Kiste im Waggon einzurichten. Der Inhalt der schweren Kiste, die sie an den Kontrollen des Militärs vorbeischmuggelten, sollte die Familien am Leben halten. Sie war bis oben hin mit Schmalzfleischdosen der deutschen Armee gefüllt. Immer wieder wurde der Waggon abgehängt, um an einen anderen Zug in Richtung Deutschland angekoppelt zu werden. Zwischendurch wurden die Flüchtenden kontrolliert, so dass sich ihre Habe immer mehr verringerte. Große Angst hatte die Familie um Fredi, weil ihm seine Schwestern im Scherz den damals üblichen Gruß beibrachten. In dieser schrecklichen Situation hatte sich Fredi glücklicherweise nicht mehr daran erinnert. Die jungen Frauen und Mädel hielten sich versteckt oder mussten sich zu alten Frauen verkleiden. Da Fredis Mutter schwer erkrankte, mussten sich seine Geschwister um ihn kümmern. Immer wenn der Waggon abgekoppelt wurde, strömten die Insassen aus, um ihre Notdurft zu erledigen oder sich in einem Bach oder einer Pfütze zu waschen. Andere strömten aus, um irgendwo etwas zu erbetteln. Über einem Blech mit zwei Ziegelsteinen wurde schnell eine Feuerstelle errichtet, um erbettelte Kartoffeln zu kochen und etwas Schmalzfleisch zu erhitzen. So ging es tagelang. Unterwegs sammelten sie starke Rutenstöcke, um mit Decken ein Dach über den offenen Waggon zu errichten. Schlimm waren die Kontrollen auf den Bahnhöfen. Hier waren sie als Freiwild den tschechischen und russischen Soldaten ausgesetzt. Eines Tages traf der Transport in Sachsen ein. Hier sagte man ihnen, dass sie in Erlau angekommen sind und sie hier bleiben können. Sie mussten einige Tage auf einem Abstellgleis ausharren, weil das sowjetische Militär den Auftrag hatte, den Flüchtlingstransport Richtung Osten abzuschieben. Nur weil aufgrund der Zerstörungen in Dresden keine Züge in diese Richtung fuhren, wurden sie freigelassen. Auch in Erlau war die Situation nicht einfach, weil freigelassene Häftlinge auf umliegenden Bauernhöfen marodierten. Nachdem sich die Situation etwas beruhigte, wurden sie übergangsweise auf diesen Bauernhöfen aufgenommen. In dieser Zeit stieß auch Fredis Vater zur Familie. Er kam gerade dazu, als sowjetische Soldaten eine Frau „windelweich“ schlugen, weil sie einen Gegenstand in einem Tuch mit einem kleinen Hakenkreuz eingewickelt hatte. Die Soldaten waren irritiert, als sein Vater sie auf Russisch ansprach. Sie ließen von der Frau ab und wandten sich ihm zu. Am Ende bekam auch er einige Schläge mit einem Gummiknüppel auf den Rücken seiner gefütterten Jacke.

In Erlau unternahm Fredis Vater mit Fredi kleinere Ausflüge. Einmal stellte er den Handwagen mit Fredi unter einen Apfelbaum, um Äpfel von den Zweigen zu schütteln. Weil Fredi dabei Äpfel auf den Kopf fielen, kann er sich bis heute an dieses Erlebnis erinnern. Ein Andermal ging sein Vater mit ihm in den Wald Pilze suchen und setzte Fredi zum Spielen auf einem moosigen Plätzchen ab. Sein Vater war vom Suchen der Pilze so erfasst, dass er den stillen Fredi erst nach längerem Suchen im Wald wiederfand. Vor Verlassen des Ortes Erlau wurde von der Fluchtgemeinschaft zufällig Kleinpaschleben als Ziel ausgewählt und Kontakte mit dem dortigen Bürgermeister geknüpft. Die guten Ernten in der Börde und die von den Großbauern verlassenen Häuser halfen ihnen zufällig weiter. 

Was kann Fredi, der sich an die Flucht nicht erinnert, mit den Aussagen von Angela anfangen? Er kann nur daraus ableiten, in welch schwieriger Situation er sich, als jüngstes Mitglied, in diesem Transport befand. Er musste sich auf die Hilfe seiner Mutter und seiner Geschwister verlassen, die zusammen mit anderen Insassen des Waggons einen Überlebenskampf führten. Es ist nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie nicht zufällig die Kiste mit den Schmalzfleischdosen dabei gehabt hätten. Wenn Fredi heute über diese Situation nachdenkt, stellt er sich seinen Blick in die panischen Gesichter seiner Mitreisenden vor. Er wird mitbekommen haben, in welcher Situation sie sich befanden. Dieser Sozialverband, wie ihn Psychologen nennen, wird sich mit all seinen Reaktionen unbewusst in sein Gedächtnis eingegraben haben. Spurlos wird das an Fredi nicht vorüber gegangen sein. Was das für ihn und seine Entwicklung bedeutet, kann er nur erahnen. Nach den schwierigen Nachkriegsjahren begann für Fredi, bis er 1955 mit seinen Eltern in den Westen umsiedelte, in Sachsen Anhalt eine bescheidene und unbeschwerte Kindheit. 

Späte Besuche

Erst als Fredis Eltern und Geschwister nicht mehr lebten, begann er sich mit der Heimat seiner Eltern und seines Geburtsortes näher auseinanderzusetzen. Durch Besuche entstanden neue Kontakte und vergessene verwandtschaftliche Beziehungen konnten geknüpft werden. Auch den Ort Kleinpaschleben, in dem er zehn wichtige Jahre seiner Kindheit verbrachte, suchte er nach der Wende auf.

Im Jahr 2012 verfolgte Fredi auf einer weiteren Reise die Spuren seiner Ahnen. Neben der Slowakei mit der Zips, in der heute noch deutsche Sprachinseln existieren, der Nord- und Südbukowina, in der noch Reste von Deutschen leben,  besuchte er auch seinen Geburtsort in Polen. Die ehemalige Hauptstadt der Bukowina Czernowitz hatte er zuvor besucht. Ihm fiel jedes Mal die Gastfreundlichkeit auf, mit der er und seine Mitreisenden aufgenommen wurden. In seinem Geburtsort Saybusch führte ihn ein junger Mann an die Reste des polnischen Hofes. Nicht mehr viel war übrig geblieben. Das Wohnhaus war zum Pferdestall umgebaut worden und die Scheune war einige Jahre vorher abgebrannt. Auf dem Gelände, das auf einem Berg liegt, führt heute ein Skilift auf die Bergkuppe. Fredi hatte Gelegenheit mit Nachbarn zu sprechen, die sich noch an die damalige Situation erinnerten. Als er vor dem Brunnen vor den Resten des Hauses stand, wusste er nicht, ob er sich an die Situation, die ihm dabei in den Kopf kam, erinnerte oder ob sie ihm durch Überlieferungen  bekannt war. Als Zweijähriger stand er vor dem Brunnen, als seine Mutter aus dem Haus gerannt kam und ihn schnell hereinholte, weil über ihnen ein Flugzeug kreiste.

Auch die Bukowina, die Heimat seiner Eltern und Geschwister, besuchte er einige Male. Er baute gute Kontakte zu dort lebenden deutschen und rumänischen Familien auf. In Erinnerung an seine Reisen machte er sich zusammen mit einem Freund Gedanken, wie man – mit Bezug auf die Buchenlanddeutschen – die Vergangenheit der Bukowina und ihr einmaliges kulturelles Umfeld wach halten kann. Sie entwickelten gemeinsam die Internetplattform „Bukowinafreunde“ und brachten vor einiger Zeit ein Buch mit gleichem Titel heraus. Im Buch hat Fredi zur Reise im Jahr 2014 einen Artikel mit der Überschrift „In der Bukowina wirst du berührt … von den Menschen und der Landschaft“,  in dem auch emotionale Aussagekraft steckt, verfasst. 

Erst später wurde Fredi bewusst, dass die Zeit und der Verlust der Heimat auch an seinen Verwandten nicht spurlos vorübergegangen waren. Schon in der Bukowina mussten sie als Minderheit nach dem Ersten Weltkrieg viele Abstriche hinnehmen. Veränderungen und Anpassungen haben sie ein Leben lang begleitet. Am Ende sind sie zwar in der Masse mitgeschwommen, aber zwischendurch haben sie den Boden unter den Füßen verloren. Damit gemeint ist, eine nicht aufgearbeitete Traumatisierung hinterlässt „Spuren“, die sehr unterschiedlich ausfallen können. Wie auch, wenn Menschen auf unterschiedlichen Planeten lebten. 

Heimat kann viel sein: Ein Ort, ein Zuhause, Kindheit, Sicherheit, bekannte Menschen, schöne Erinnerung, ein gutes Gefühl und noch viel mehr. Heimat kann aber auch verloren gehen und nie wieder kommen. Viele Menschen haben ihre Heimat mehrmals verloren, andere verlieren sie immer noch. Häufig finden sie eine neue Heimat. Viele Millionen Menschen sind heimatlos und leben dennoch. Sie haben nichts, woran sie sich festhalten können. Sie werden Halt in der Ersatzheimat gefunden haben.

Fredi 1948 am Hochzeitstag seiner Schwester auf der Treppe vor der Wohnung

Die Einordnung der Nachkriegszeit

Der Zweite Weltkrieg wurde am 8. Mai 1945 beendet. Die Potsdamer Konferenz im Schloss Cecilienhof vom 17. 7. bis 2.8.1945 war ein Treffen der drei Hauptalliierten, die Deutschland in Besatzungszonen der Siegmächte – Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich – aufteilten. Die deutschen Ostgebiete waren abgetrennt und gehörten zu Polen und Russland. Für das Saarland galt eine Sonderregelung. Dadurch war Deutschland faktisch in Ost und West geteilt und entwickelte sich unterschiedlich. Ebenfalls wurde von den Alliierten beschlossen, Deutschland zu entnazifizieren und zu demokratisieren. Das deutsche Volk sollte nicht vernichtet oder versklavt werden, hieß es. Es sollte sein Leben auf demokratischer und friedlicher Grundlage wieder aufbauen. „Aufzubauen waren auch die bombardierten Städte“. Aus den einstigen Verbündeten wurden Konkurrenten um die Vorherrschaft in Europa. Am 23.5.1949 trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik erfolgte am 7.10.1949. Damit existierten bis 1990 zwei deutsche Staaten. Bis 1948 nannten die Deutschen ihre Währung Mark. Die Reichsmark wurde durch Währungsreformen in Westdeutschland am 20.6.1948 und in Ostdeutschland am 24.7.1948 abgelöst.

Die Nachkriegszeit aus Sicht eines erwachsenen Ostkindes

Fredi

Wir schreiben September 1945. Die Menschen sind froh, dass der Krieg zu Ende ist. Im Dorf ist die Rote Armee eingezogen. Sie löst die Gemeindeverwaltung und den Bürgermeister ab. Sie hat jetzt das Sagen und verwaltet auch das Vermögen und die Ländereien der geflohenen Großbauern. In die verlassenen Herrenhäuser der „Großgrundbesitzer“ sind Flüchtlinge eingezogen. Im Streit um die Einrichtungen kommen die Vertriebenen schlecht weg. Sie sind froh, dass Ruhe eingekehrt ist und sie ein Dach über dem Kopf gefunden haben. Die sowjetischen Soldaten suchen den Kontakt zur Bevölkerung und verdonnern jeden, der keine feste Arbeit hat, zur Arbeit auf den Feldern. Sie trinken Alkohol, rauchen viel und sind hinter jungen Frauen her. In den zerstörten Städten müssen die Bewohner ihre Wohnungen mit Flüchtlingen teilen, obwohl sie selbst Not leiden. Überall ist die Not groß. Städter ziehen zum „Hamstern“ übers Land und verscherbeln für ein paar Kartoffeln ihren Schmuck. Im Namen Stalins wird eine Bodenreform eingeführt. Bis zur genossenschaftlichen Umorganisation wird das Land an Kleinbauern verteilt. Auch Flüchtlinge bekommen kleine Flächen zugeteilt. So soll die Bewirtschaftung der Felder in Gang gesetzt und die Versorgungslage verbessert werden. Die Menschen leiden Hunger, weil die Versorgung mit Lebensmitteln auf Lebensmittelkarten nicht ausreicht. Sie sammeln Getreideähren, stoppeln Kartoffeln und Rüben auf abgeernteten Feldern und suchen nach Brennholz. Bäume dürfen nicht gefällt werden. Die Menschen sind erfinderisch und bringen das im Wind gereinigte Getreide zur Mühle. Häufig gibt es Rübensuppen und Plätzchen aus Kartoffeln und Mehl zu essen. Viele Menschen leiden an Hunger und Krankheiten. Im strengen Hungerwinter 1947 gibt es viele Opfer. Für Tauschgeschäfte mit den Sowjets pflanzen die Dorfbewohner auch Tabak an und brennen Rübenschnaps. Die russischen Hauptabnehmer rücken dafür einen Teil ihres Proviants heraus. In den Folgejahren verbessert sich die Lage nur langsam. Es gibt sozialistische Reformen in der sowjetischen Besatzungszone und erste Wirtschaftswunder im „goldenen Westen“. Trotz der bewachten innerdeutschen Grenze blüht der schwarze Grenzverkehr und der Tauschhandel.

Während Amerika Care-Pakete in den Westen schickt, werden im sowjetisch besetzten Gebiet Maschinen in den Fabriken demontiert und Richtung Sowjetunion transportiert. Aber auch im Westen beschlagnahmen die Alliierten Know-how und Patente.

Nach und nach erhalten linientreue Genossen die Macht zurück. Es entstehen neue deutsche Gemeindeverwaltungen und Bürgermeisterämter. Auch an der Überwachung der Bürger wird gearbeitet. Es entsteht ein Stasi-Vorläufer-System. Dieser schleichende Prozess führt zu ersten Zerwürfnissen. Ab Juli 1948 gibt es die Ostmark und ab Oktober 1949 existiert die DDR. Der Unterschied zwischen Ost und West führt dazu, dass frustrierte Bürger die DDR verlassen. Ungebrochen wird der Sozialismus, den viele Bürger noch nicht kennen, weiterentwickelt. Mehr und mehr wird in den Schulen und in den Verwaltungen auf Linientreue geachtet. Dadurch entsteht eine Schar von Mitläufern, die erkennt, dass es anders nicht geht. Es entsteht die Planwirtschaft mit steigenden Anforderungen an die arbeitende Bevölkerung. Die neuen Produkte, die den Markt erreichen, sind nur über Beziehungen und durch lange Wartezeiten zu bekommen. Auf diese Weise entsteht in dem sozialistischen System eine Zweiklassengesellschaft, zwischen linientreuen Genossen, die sich Vieles leisten können und einer Arbeiterschicht, die in ihrem Alltag vor den Geschäften anstehen muss. Der politische Druck wird durch Überwachung des Staatssicherheitsdienstes abgesichert. Das Motto lautet: „Friss Vogel oder stirb“. Das alles hält die Menschen in der Sowjetzone nicht davon ab, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und auch einen Blick in den Westen zu richten. Politisch wird der wirtschaftliche Aufschwung im Westen schlechtgeredet. Dieser Meinung schließen sich vor allem die Linientreuen an. Der freiheitsliebende und selbständige Bürger in Ostdeutschland wird mehr und mehr verunsichert. Um die Mangelwirtschaft zu verschleiern und die Stimmung der Bürger zu verbessern, werden die sogenannten „sozialistischen Errungenschaften“ in den Vordergrund gestellt. Grundnahrungsmittel und Wohnraum werden staatlich subventioniert. Dass Motto für den Bürger lautet jetzt: „Zuckerbrot und Peitsche“. Unter bestimmten Voraussetzungen sind Reisen, vorwiegend in Ostblockländer, möglich. Studieren darf nur, wer linientreu ist oder in der MVA gedient hat.

Die Auswüchse des Stasi-Überwachungsstaates werden nach der politischen Wende 1989 in Gänze sichtbar. Unvorstellbare staatliche Grausamkeiten gegen Menschen, die eine abweichende politische Meinung hatten, wurden angewendet. Im Stasigefängnis Hohenschönhausen wurden politische Häftlinge heimtückisch mit Kobalt bestrahlt, bevor sie für Geld an Westdeutschland verkauft wurden und dort starben. Kinder von politisch Verfolgten wurden von linientreuen Ostbürgern adoptiert, um im kommunistischen Sinne erzogen zu werden. Diese und andere Grausamkeiten offenbaren die Perversität des Systems. Die Stasiaktenbehörde in Berlin bestätigt in vielen Tausend Akten den staatlichen Verfolgungswahn über DDR-Bürger. Als Erich Mielke, verantwortlich für den Staatssicherheitsdienst und neben Erich Honecker der wichtigste Mann im Staat, 1989 das Wasser bis zum Hals stand, sprach er vor der DDR Volkskammer in abgehackten Sätzen: “Ich liebe – Ich liebe doch alle – alle Menschen – Na ich liebe doch – Ich setzte mich doch dafür ein!”. Diese Worte klangen wie Hohn und Ignoranz. Wo sind die überzeugten Stasimitarbeiter und Nutznießer des alten Systems nach der Wende geblieben? Sind sie jetzt „lieb und nett“, haben sie sich „gewendet“ oder verbreiten sie unterschwellig schlechte Stimmung? Es ist ein Wunder, dass die politische Wende geglückt ist. Störfaktoren aus vielen Hinterhalten haben vergeblich versucht diesen Prozess zu stören. Es waren die Menschen in der DDR, die den Mut hatten in den Montagsdemonstrationen in Leipzig und an anderen Orten mit Wucht gegen das DDR-Regime anzutreten. Die DDR-Bürger hatten erkannt, dass die Zeit für eine politische Wende gekommen war. Viele glückliche Umstände hatten sie auf dem Weg in die Freiheit begleitet. Selbst Gorbatschow wird sich den Veränderungsprozess anders vorgestellt haben. Schließlich ist es der politischen Kraft des Westens, trotz aller Risiken, gemeinsam mit den Mutigen in der DDR gelungen, die „Deutsche Einheit“ zu vollenden. Leider ist die Fortsetzung bei der „innerdeutschen Aufarbeitung“ nicht ganz so gut gelungen. „Es wird sich schon richten“, reicht eben nicht. Leider ist daraus mehr ein Nebeneinanderherleben, als ein Prozess der gegenseitigen Wertschätzung geworden. Machen wir uns nichts vor, der Spalt zwischen Ost und West ist tiefer, als die Menschen wahrhaben wollen. Die „Linke Partei“, siehe da, hat diese Defizite erkannt und einen Schüleraustausch zwischen Ost und West angeregt. Ist die Politik überfordert und wird sie den Bedürfnissen der Bevölkerung nicht mehr gerecht?

Dorfgeschichten

Der missglückte Grenzübertritt

Fredi war fünf Jahre alt, als er mit seiner Mutter seine Geschwister in Westdeutschland besuchen wollte. Seine Mutter kannte sich mit den verbotenen Grenzgängen dieser Zeit aus und bereitete ihn behutsam auf die große Reise vor. Nur sein Vater wusste Bescheid, denn niemand sonst durfte hiervon etwas erfahren. Eines Tages machten sie sich auf den Weg. Fredi war neugierig, weil er mit der Eisenbahn fahren wollte. An seine letzte Eisenbahnfahrt im Fluchtwaggon konnte er sich zum Glück nicht mehr erinnern. Bis zum Bahnhof in Drosa mussten sie einen acht Kilometer langen Fußmarsch auf sich nehmen. Seine Mutter schleppte sich bereits mit Taschen ab, als auch noch Fredi unterwegs plötzlich schlapp machte. Ob er nicht mehr laufen konnte oder ob er nur getragen werden wollte, wusste seine Mutter nicht. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn huckepack zu nehmen. Fredi erinnert sich daran, wie seine Mutter immer wieder Pausen einlegen musste. Heute fragt er sich, warum er nicht laufen konnte. Irgendwie schafften die beiden es bis zum Bahnhof. Fredis Mutter kaufte Fahrkarten und sie nahmen auf Holzbänken in einem Abteil des Zuges Platz. Inzwischen hatte Fredi Hunger und Durst bekommen. Seine Mutter holte den Proviant aus dem Rucksack und er bekam eine Schnitte Brot, ein abgepelltes Ei und Waldmeisterlimonade. Der Zielbahnhof war Offleben, eine kleine Grenzstadt in der Nähe von Helmstedt im Westen. Während der Fahrt vertrieb er sich die Zeit mit dem Zählen der vorbeiziehenden Telegrafenmasten. Im Zugabteil vermischte sich stattdessen ihr Essensgeruch mit dem Qualmgestank der Dampflok. Nach der Fahrt stiegen sie in Offleben aus und gingen in Richtung Braunkohletagebau, den seine Mutter bereits kannte. Vor dem Gelände des Tagebaus stießen sie auf eine Gruppe von anderen Grenzgängern. Fredi viel auf, dass er das einzige Kind unter ihnen war. Nun warteten sie noch auf den Grenzführer und das Hereinbrechen der Dunkelheit. Als der Grenzführer eintraf setzte sich der Treck in Bewegung. Ganz leise gingen sie im Gänsemarsch den schmalen Pfad oberhalb der Halde entlang. Durch Lücken in den Buschreihen konnte Fredi im Halbdunkel in der Tiefe Lichter und große Maschinen erkennen. Als sie das Ende des Tagebaus erreichten, eröffnete sich ihnen der Blick auf eine befestigte Straße mit einem Graben und dem angrenzenden Wald. Im nu veränderte sich die Stimmung in der Gruppe, denn plötzlich waren alle aufgeregt. Leise tuschelten sie über das weitere Vorgehen. Der Grenzführer ging nun mit ihnen über die Straße, um über den Graben das Waldstück in der Westzone zu erreichen. Leise gingen alle in gebückter Haltung hinterher. Plötzlich und unerwartet sprangen zwei russische Grenzsoldaten mit Maschinenpistolen und Hunden aus dem Graben. Laut schrien sie „Stoi, Stoi“. Verdutzt blieb die Gruppe stehen und ließ sich von den Soldaten mit ihren umhängenden Gewehren festnehmen. Selbst Fredi war jetzt klar, dass sie gefasst wurden. Er hatte Angst und hielt sich an seiner Mutter fest. Eskortiert von den beiden Soldaten wurde die Gruppe an eine Sammelstelle gebracht, an der sich bereits eine größere Gruppe von gefassten Grenzgängern befand. Der Grenzführer war inzwischen nicht mehr zu sehen. Nur kurze Zeit später wurden sie von den Grenzsoldaten mit Hunden abgeführt. Fredi erinnert sich daran, wie sie in der Dunkelheit an einem beleuchteten Kirmesmarkt vorbeikamen, deren Besucher wenig Notiz von ihnen nahmen. „Was machen die jetzt mit uns?”, fragte Fredi aufgeregt. „Weiß ich nicht“, sagte seine Mutter im Weitergehen. Schließlich wurden sie in eine große Turnhalle geführt, in der sich viele Menschen befanden. Auch hier war er wieder das einzige Kind. „Sie alle waren also festgenommen worden“, überlegte er. Eine längere Kontrolle mit Verhören stand seiner Mutter bevor. Hundemüde legte sie Fredi auf eine schmale Turnerbank, auf der er sofort einschlief. Fredi wurde nur wach, wenn seine Mutter wieder zum Verhör aufgerufen wurde. Wenn sie zurückkam, berichtete sie ihm die Einzelheiten. Als es morgens hell wurde, fragte Fredi seine Mutter „was machen wir jetzt?“ Erst als seine Mutter den Bewachern eine Rückfahrkarte vorlegen konnte, ließ man die beiden wieder frei. Für die Rückfahrt kaufte die Mutter noch Milch und Brötchen, die sie im Zugabteil verzehrten. Fredis Mutter wusste, dass er Hunger und Durst hatte. Seine Mutter ließ sich die Enttäuschung nicht anmerken, als Fredi fragte, „warum fahren wir jetzt wieder nach Hause?“. Auf der Rückfahrt zählte er wieder die vorbeiziehenden Telefonmasten. Als sie am Nachmittag in Köthen eintrafen, wusste er, dass sie jetzt nicht zu Fuß gehen mussten. Sein Vater staunte nicht schlecht, als die beiden wie zwei begossene Pudel zu Hause eintrafen. Niemand hatte im Ort etwas von dem misslungenen Grenzübertritt erfahren.

Erst vier Jahre später sollte ein Westbesuch möglich werden. Diesmal hatte Fredis Mutter eine Einreisegenehmigung besorgt. In Magdeburg trafen sie auf einen überfüllten Interzonenzug Richtung Westen. Diese Züge waren immer überfüllt. Sie hatten Mühe das Gepäck zusammenzuhalten. Fredis Mutter reichte es durch ein offenes Zugfenster in den Waggon und mit Kraft zwängten sie sich in den Zug. In der Ziehharmonika der geschlossenen Plattform zwischen zwei Waggons nahmen sie auf ihren Gepäckstücken Platz. Es rüttelte sie ordentlich durch, es zog und roch nach Qualm und Schweiß. Obwohl sie dieses Mal nicht in einem leeren Abteil saßen und Fredi keine Telegrafenmasten zählen konnte, wussten sie, dass sie jetzt in Westdeutschland ankommen werden.

17. Juni 1953

Fredi kann sich gut an diese unruhige Zeit erinnern. Er bekam mit, wie Erwachsene plötzlich nur noch leise sprachen und geheimnisvoll taten. In dieser Zeit waren seine Russischkenntnisse so weit gediehen, dass er abgeworfene Flugblätter übersetzen konnte. Als er mitbekam, dass abends eine Ausgangssperre verhängt wurde und tagsüber nicht mehr als drei Personen auf die Straße durften, fiel Fredi auf, dass irgendetwas nicht stimmte. Als Motorgeräusche aus der Ferne in den Ort dröhnten, ging er mit einem Freund an den Dorfrand. Was sie hier sahen hat sie dann doch überrascht. Auf den Feldwegen und Straßen am Ortsrand standen viele sowjetische Panzer, auf denen sich große Spritfässer für längere Aufenthalte befanden. Als Fredi seinen Eltern darüber berichtete wurden sie unruhig. In seiner kindlichen Naivität konnte Fredi diese Situation nicht richtig einordnen. Ihm fiel auf, dass die Panzer lange Zeit auf Feldwegen standen. Es kehrte erst Ruhe ein, als sie die Motoren abstellten. Die Dorfstraßen waren menschenleer und Schüler hatten schulfrei. Die Erwachsenen trafen sich nur in der Dunkelheit. In dieser Jahreszeit konnte es schon sehr spät werden. Obwohl sich im Ort nichts Aufregendes tat, hielt diese Situation tagelang an. Erst später wurde Fredi klar, was in dieser Zeit geschehen war. Es war ein Volksaufstand, der vom Militär und den Panzern blutig niedergeschlagen wurde. In vielen Orten Ostdeutschlands war das Volk einer Übernahme sehr nahe gekommen. In Berlin wird der 17. Juni 1953, der von sowjetischen Panzern blutig niedergeschlagen wurde, unvergessen bleiben. Ausschlaggebend für dieses Ereignis war u. a. der Tod von Josef Stalin, der im März des gleichen Jahres gestorben war. Es gab viele Gründe, die den Volksaufstand auslösten, bei dem es Tote und Verletzte gab. Der DDR-Staat reagierte mit drastischen Strafen und Todesurteilen.

Erst Fünfunddreißig Jahre später hatte eine neue Generation in der DDR den Mut und die Kraft durch ihr Aufbegehren Veränderungen herbeizuführen. Zu spät wie viele meinen. In der Zwischenzeit wurde die DDR eingemauert, weiter heruntergewirtschaftet und der politische Gedanke der SED in den Köpfen der Menschen noch tiefer verankert. Es ist bewundernswert, dass trotz vieler Hindernisse 1989/1990 die Wiedervereinigung Deutschlands gelungen ist. Die Frage, wie sich eine früher verlaufene Wiedervereinigung ausgewirkt hätte, erübrigt sich. Den Deutschen bleiben die Erinnerungen an den 17. Juni 1953, an den Mauerbau 1961 in Berlin und an den Oktober 1989. 

Der Truthahn

Eines Nachmittags durfte Fredi zum Spielen vor die Haustür. Drei schiefe Klinkerstufen führten direkt auf den großen Hof. Von hier aus konnte er alles überblicken. Die Stallungen drum herum, die Schwengelpumpe und den großen Misthaufen mit Jauchengrube mittendrin. Im hinteren Teil des Hofes waren die Plumpsklos. Die interessierten ihn nicht, denn er durfte noch auf den Eimer. Wasserleitungen und Abflüsse gab es nicht oder sie waren unbrauchbar.

Da es Winter war hatte seine Mutter Fredi dick angezogen. Sogar seine neuen roten Handschuhe bekam er an. Was sie übersehen hatte und was niemand ahnen konnte war der frei herumlaufende Truthahn, der noch sein Überleben bis Weichnachten fristete. Unter den vielen Gänsen, Enten und anderem Federvieh fiel er nicht auf. Fredi hatte gerade die letzte Treppenstufen verlassen, als plötzlich dieser Riesenvogel mit roten Bartlippen auf ihn losstürzte und ihn zu Boden schmiss. Auf dem Pflaster liegend hackte der Truthahn immer weiter auf seine roten Handschuhe ein. Perplex und voller Angst mobilisierte Fredi mit seinem Geschrei seine Mutter. Die war sofort zur Stelle und befreite ihn aus der misslichen Lage.

Was war passiert? Truthähne sehen in allem was rot ist ihren Gegner, also andere Truthähne mit roten Bärten. Obwohl Fredi nicht so aussah, wurden ihm seine roten Handschuhe zum Verhängnis. Zu seinen schönen neuen roten Handschuhen hatte Fredi von nun an ein gestörtes Verhältnis. 

Das Gewitter

Es war Sommer 1949 in dem kleinen Dorf in Sachsen Anhalt. Fredis Eltern hatten als Flüchtlinge im Zuge der sowjetischen Bodenreform zwei Morgen Ackerland erhalten. Zu je einem Teil wurde Weizen, Kartoffeln, Gemüse, Klee und Luzerne für  Ziegen und Kaninchen angebaut. Obwohl viel Mühe und Arbeit mit der Bewirtschaftung verbunden waren, sicherten sie so ihre Existenz. Fredi befand sich eines Tages mit seiner Mutter auf diesem Feldgrundstück. Seine Mutter wollte in den Gemüsebeeten arbeiten, als sich bereits der Himmel verdunkelte. Fredi betrachtete die ganze Zeit den Himmel und fragte irgendwann: “Mama, kommt da ein Gewitter?”. “Ich bin gleich fertig, dann gehen wir nach Hause”, war ihre Antwort. Aber plötzlich fing es schon zu regnen an. Seine Mutter hörte sofort mit der Arbeit auf. Sie nahm ihn an die Hand und sie machten sich schnell auf den langen Heimweg. Um sie herum blitzte es bereits und es wurde dunkeler. Als sie sahen, wie die Blitze um sie herum einschlugen und es im gleichen Moment donnerte, bekamen sie Angst. “Mama ich habe Angst”, sagte er, als sie schnellen Schrittes auf dem Heimweg waren. “Wir müssen jetzt so schnell wie möglich nach Hause”, waren ihre Worte. Als Fredi zur Seite blickte, sah er wie die Blitze neben ihnen einschlugen. Die lauten Donnerschläge ließen sie und die Erde erbeben. Fredi vergisst nicht, wie in dieser weiten und flachen Landschaft die Blitze auf die Erde niedergingen. Es staubte. Jeder Blitz war weithin sichtbar. Zum Glück kam Fredi nicht der Gedanke, dass einer davon auch ihn treffen könnte, aber bestimmt hatte seine Mutter daran gedacht. Dass sie inzwischen pudelnass waren war zur Nebensache geworden. Die hellen Blitze und die lauten Donnerschläge hatten sie abgelenkt. Dieses Naturschauspiel hatte beide stark beeindruckt. Bei starken Gewittern muss Fredi heute noch an diese Situation denken. Zum Glück war ihm damals die Gefahr nicht bewusst. Seine Mutter hatte sich ihre Angst nicht anmerken lassen. Erst als sie nach einigen Kilometern die ersten Häuser erreichten entspannte sich die Lage etwas, obwohl sie Blitz und Donner im Dorf weiterhin verfolgten. Die abschüssige Straße hatte sich zu einem kleinen Bach verwandelt. Unten im flachen Dorf bildeten sich inzwischen kleinere Seen auf den Straßen. Da es keine Kanalisation gab dauerte es einige Zeit bis das Wasser wieder ablief. Selbst als ihr Zuhause in Sichtweite war, blitzte und donnerte es immer noch. Fredi hatte seine Angst inzwischen überwunden, auch weil er sich schon darauf freute mit anderen Kindern nach dem Gewitter auf der Straße Dämme zu bauen. Den Kindern machte es Spaß, aus dem angeschwemmten Material Dämme zu bauen, um große Seen zu schaffen und so das Wasser noch länger auf der Dorfstraße zu halten. Als er seine Mutter fragte, „darf ich nachher auf der Straße spielen?”, sah er ihren fragenden Blick. Völlig entsetzt war seine Mutter, als die beiden zu Hause von seiner Schwester mit Schadenfreude empfangen wurden, weil sie pudelnass daher kamen. Seiner Schwester war sicher nicht bewusst, in welcher Gefahr sie sich befanden.

Wer heute noch ein Gewitter in freier Natur erlebt, weiß welche Energie in den Blitzen steckt. Fredi und seine Mutter fanden in der freien Feldlandschaft keinen Schutz. Nach dem Naturgesetz hätten sie sich flach hinlegen müssen, am besten in eine Ackerfurche. Aber wer macht das schon?

Der Drachen

Fredi weiß noch genau, wie begeistert und neugierig er war, als er eines Tages hoch im Himmel einen Drachen mit einem langen Schwanz entdeckte. Zu Hause erzählte er von dem Papiervogel am Himmel. Da die Mutter seine Begeisterung erkannte, bat sie ihren Mann, Fredi einen Drachen zu bauen. Sein Vater erkundigte sich, was man für den Bau eines Luftdrachens benötigte. So begann er eines Tages mit dem Bau eines Drachens, um seinem Sohn den Wunsch zu erfüllen. Er brachte es tatsächlich fertig einen Drachen aus Holzleisten, Bindfaden und Packpapier zu bauen. Da der Wind über die Stoppelfelder wehte, sollte gleich am nächsten Tag der Flug starten. Leider mussten sie schon beim ersten Flugversuch feststellen, dass der Drachen für den Flug ungeeignet war. Fredi konnte mit dem Drachen an der Schnur laufen so schnell er wollte, der Drachen hob einfach nicht ab. Enttäuscht gingen sie nach Hause. Dieses Erlebnis musste Fredi mächtig frustriert haben, weil er den Versuch unternahm selbst so einen Papiervogel zu bauen. Er schaute sich bei seinen Freunden die Papierdrachen genau an. Als er das restliche Material von seinem Vater in die Hand nahm, stellte er fest, dass die Holzleisten zu schwer waren. Er besorgte sich leichte und dünne Leisten. Fredi umspannte das Holzleistenkreuz mit einem Bindfaden, legte das Gestell auf das Packpapier und schnitt es zurecht. Die Ränder klebte er mit Mehlkleister um den Bindfaden fest. Er hatte mitbekommen, dass der Schwerpunkt für den Startbindfaden in der Mitte verlaufen musste. Den Schwanz vom alten Drachen band er am unteren Ende fest. Jetzt fehlte nur eine lange Schnur, um den Drachen in die Lüfte zu bekommen. Da er keinen langen Bindfaden hatte, sammelte er kleine Enden Papierbindegarn von aufgeschnittenen Strohbunden, das mehrfach zusammengedreht war. Er drehte den Bindfaden auf und band die dünnen Fäden zusammen. Als die Länge ausreichte, wollte er den Drachen steigen lassen. Er wickelte den Bindfaden mit den vielen Knoten auf einem Stöckchen zu einem riesigen Knäuel zusammen. Am nächsten Tag marschierte Fredi mit seinem Vater auf das Stoppelfeld. Sein Vater ist nur widerwillig mitgegangen, weil er befürchtete, dass der Drachen nicht in die Höhe steigt. Fredis Vater hielt den Drachen hoch, als er zwanzig Meter von seinem dicken Knäuel abrollte und los lief. Siehe da, der Drachen stieg gerade hoch in die Lüfte und wedelte mit seinem Papierschwanz. Da war selbst Fredis Vater sprachlos. Jetzt gab er dem Drachen alles was er noch an Band hatte. Einen großen Nachteil hatte die zusammengeknotete Drachenschnur. Fredi konnte seinem Drachen keine Post hochschicken.

Er war glücklich und froh, dass er jetzt mit den Großen mithalten konnte. Als sein Papa nach Hause kam, erzählte er Fredis Mutter von dem erfolgreichen Start. Von nun an bekam der Drachen und das dicke Bindfadenknäuel einen besonderen Platz unter seinem Bett.

Heute baut Niemand mehr einen Drachen. Für wenig Geld kann man ihn schon komplett mit vielen Meter Schnur kaufen. Leider sieht man ihn so gut wie gar nicht mehr. An den Küsten gibt es lenkbare Drachen oder Drachenflieger, die sich mit ihrem Bord von einem riesigen Drachen ziehen lassen und dabei mehrere Meter in die Höhe steigen. So ändert sich die Zeit.

Mit dem Pferd durch den Dorfteich

Die Krönung für jeden Jungen im Dorf war auf dem Rücken eines Pferdes im Teich durch das Pferdeloch zu schwimmen. Das Pferdeloch war die tiefste Stelle im Dorfteich. Da Pferde von Natur aus schwimmen können fangen sie an, wenn sie keinen Boden unter ihren Hufen haben, mit ihren Beinen zu rudern. Da es für sie ungewohnt ist, kehren sie schnell wieder um. Der Großvater von Fredis Freund war Neubauer und hatte eine braune Stute. Sie hieß Liesa und kannte Fredi und seinen Freund genau. Da sie Liesa an ihr Herz geschlossen hatten, wieherte sie immer wenn sie die beiden sah. Eines Tages im Sommer begegneten sich Fredi und sein Freund Gerhard auf der Dorfstraße. „Weißt du, wann wir Liesa wieder ausreiten dürfen?“, frage ihn Fredi. „Ja, morgen Nachmittag können wir Liesa haben“, antworte er, „mein Opa hat schon gefragt, wann wir mit Liesa an den Teich wollen?“. „Das ist toll, dann komme ich morgen vorbei“, antwortete Fredi im Weitergehen. In der Erntezeit arbeiteten die Pferde auf dem Feld und waren verschwitzt und schmutzig. Gerhards Opa legte großen Wert darauf, dass sein Pferd sauber ist und gestriegelt und gebürstet wird. Für die beiden war das eine willkommene Gelegenheit, mit dem Pferd durch das Pferdeloch zu schwimmen. Am nächsten Tag trafen die beiden mit der braunen Stute zusammen. Liesa wieherte schon, als sie die beiden sah. „Ob sie wohl weiß, was wir mit ihr vorhaben?“, fragte Fredi. „Aber genau, den wir haben gemeinsam Spaß“, antwortete sein Freund. Ihr Pferd hatte nur Zaumzeug um. Mehr brauchten die beiden auch nicht. Zum Reiten benötigten sie keinen Sattel. Sie streichelten ihren Hals und gaben ihr einen leichten Klaps. Das mag sie, stellte Fredi fest. Er stellte sich an Liesas Seite und machte mit seinen Händen eine Leiter, damit Gerhard aufsitzen konnte. Am Anger angekommen fragte er ihn, „soll ich Liesa führen?“. „Ich möchte alleine reiten“ antwortete er. Es war nicht schwierig, weil Fredi nebenher lief. Als sie am Dorfteich ankamen, machte man ihnen den Weg frei. Fredis Freund ritt gleich ins Wasser. Liesa stampfte mit ihren Hufen und als sie im Pferdeloch ankam, fing sie an zu schwimmen und kehrte  zurück. „Das ist das Pferdeloch“, rief Gerhard Fredi zu. Als die beiden wieder rauskamen, machten sie Liesa an der roten Mauer fest. Fredi hatte Striegel und Bürste mitgenommen. Jetzt machten sie sich an die Arbeit und schrubbten den großen Körper von Liesa trocken. „Merkst du, wie gut ihr das tut?“, fragte Fredi. „Deswegen sind wir auch ihre Freunde“, erwidert Gerhard. Fredi freute sich schon auf den Heimweg, denn jetzt konnte er auf Liesa reiten. Er konnte die Zeit nicht mehr abwarten und sagte zu seinem Freund, „mach schon die Leiter, damit ich rauf kann“. Nun saß er wie ein kleiner König auf dem Pferdrücken. Er hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass Liesa durch ihre Pflege übermütig geworden war. Gerhard konnte sie nicht mehr festhalten, als sie im Galopp den Heimweg antrat. Sie kannte den Weg genau und wurde immer schneller. Jetzt musste Fredi sein ganzes Geschick beweisen, auch ohne Sattel auf ihrem Rücken sitzen zu bleiben. Zum Glück wurde sie wieder langsamer und Gerhard nahm sie wieder an die Leine. „Was war das den?“, fragte er ganz außer Atem. „Das nächste Mal willst du bestimmt zurückreiten“, war Fredis Kommentar. Sie hatten ihren Spaß und Gerhards Großvater bekam ein gestriegeltes und sauberes Pferd zurück. Als Liesa auf dem Hof den Großvater sah, fing sie laut an zu wiehern. „Das muss aber schön gewesen sein“, sagte er, als er sie in den Stall führte. Sie brachten frisches Heu hinterher. „Liesa soll es gut bei uns haben“, war die Meinung von Gerhard. Nicht nur im Sommer hatten sie ihren Spaß mit Liesa.

Im Winter, wenn es keine Arbeit für das Pferd gab, wurde Liesa vor die Kutsche oder vor den großen Schlitten gespannt. Schlittenfahren machte ihnen und dem Pferd viel Spaß. Vor allem wenn die Glocken am Halfter bimmelten. An den großen Schlitten wurden kleine Schlitten angehängt, die in den Kurven meist umkippten. Gerhards Opa fuhr als vorsichtiger Kutscher langsam und blieb stehen, wenn die angehängten Schlitten im Schnee lagen. Fredi kann sich gut daran erinnern, wie sich Liesa freute, wenn sie die beiden Freunde sah. Fredi bildete sich ein, dass sie Beide verstand. Heute kann Fredi einen Pferdeflüsterer gut verstehen. Leider hatte er nie wieder die Gelegenheit auf einem Pferd zu reiten, obwohl ihm das Herz aufgeht, wenn er in der Nähe eines Pferdes ist.

Vor der Ausreise

Die Zeit vor der Ausreise behielt Fredi in schlechter Erinnerung. Damals wechselte sich das Interesse an der neuen und der Verlust der alten Heimat in seiner Gefühlswelt ab. Auch hatte er einen Teil seiner kindlichen Unbefangenheit inzwischen eingebüßt. Er hatte die Anstrengungen seiner Mutter mitbekommen, die immer wieder neue Ausreiseanträge stellte, für die viel Papier und lange Laufwege erforderlich waren. Allein das Ausreisevorhaben hatte ihn befangen gemacht; er war nicht mehr der unbefangene Junge. Vielleicht hatte er auch so etwas wie ein schlechtes Gefühl. Sich davon machen, hieß es damals im Osten. Auch wenn es viele Gründe gab, die DDR zu verlassen. Immer wieder hatte er vorher erlebt, wie Nachbarn, Bekannte und Klassenkameraden plötzlich verschwanden. Obwohl Fredis Familie offiziell im Rahmen einer Familienzusammenführung ausreisen wollte, war ihr Leben nicht einfacher geworden. Sein Vater hatte sich mit der Situation im Osten abgefunden und kein großes Interesse an einer Ausreise gezeigt. Seine Mutter war die treibende Kraft und strebte Veränderungen an. Sie erkannte die Situation in der DDR, in der Fredi keine Zukunftschancen gehabt hätte. Mit der dörflichen Lage und mit zwei alten Eltern erschien ihr die Lage aussichtslos. Ein weiterer Grund seiner Mutter war, dass sie aufgrund der Geschehnisse im Zweiten Weltkrieges und den Fluchtereignissen eine pazifistische Meinung hatte. Sie hätte alles dafür getan, Fredi den Militärdienst zu ersparen. Sie wäre mit ihm in die Schweiz gegangen, wenn sie dadurch den Militärdienst hätte verhindern können. So sehr hatte sie der Verlust seines gefallenen Bruders belastet. Die Tatsache, dass der Rest der Familie im Westen lebte, trieb sie alle an. 

Mit jedem Schritt, mit dem Fredis Mutter mit den Behörden weiterkam, konkretisierten sich ihre Umzugsgedanken. Es gab bereits nur noch wenig Freunde. Entweder beneidete man die Familie wegen des Ausreisevorhabens oder man betrachtete sie als Staatsfeinde. Die Monate bis zum eigentlichen Umzug wurden immer schwieriger. Es fühlte sich an, wie ein Leben im Vakuum. Fredi wurde in der Schule zwar nicht schlecht behandelt, er hatte aber das Gefühl, dass man ihn zunehmend ignorierte. Vor allem seine Lehrer. Ähnlich war es auch mit seinen Freunden. Man mied die Nähe zu Fredi und seinen Eltern, vielleicht auch um sich selbst nicht in ein vages Licht zu rücken. Vielleicht wollte man sich damit auch selbst schützen. Während Fredis Mutter nach Genehmigung der Ausreise Euphorie versprühte, fühlte er sich aus dem Dorfverbund ausgeschlossen. Er mied daher auch die meisten Kontakte. In dieser Zeit hatte seine Mutter viel zu organisieren, so dass ihr das vielleicht nicht auffiel. Für einige Tage kam sein Schwager aus dem Westen, um bei den Umzugsvorbereitungen mitzuhelfen.