Der missglückte Grenzübertritt

Der missglückte Grenzübertritt

Fredi war fünf Jahre alt, als er mit seiner Mutter seine Geschwister in Westdeutschland besuchen wollte. Seine Muter kannte sich mit den verbotenen Grenzgängen dieser Zeit aus und bereitete ihn behutsam auf die große Reise vor. Nur sein Vater wusste Bescheid, denn niemand sonst durfte hiervon etwas erfahren. Eines Tages machten sie sich auf den Weg. Fredi war neugierig, weil er mit der Eisenbahn fahren wollte. An seine letzte Eisenbahnfahrt im Fluchtwaggon konnte er sich zum Glück nicht mehr erinnern. Bis zum Bahnhof in Drosa mussten sie einen acht Kilometer langen Fußmarsch auf sich nehmen. Seine Mutter schleppte sich bereits mit Taschen ab, als auch noch Fredi unterwegs plötzlich schlapp machte. Ob er nicht mehr laufen konnte oder ob er nur getragen werden wollte, wusste seine Mutter nicht.  Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn huckepack zu nehmen. Fredi erinnert sich daran, wie seine Mutter immer wieder Pausen einlegen musste. Heute fragt er sich, warum er nicht laufen konnte. Irgendwie schafften die beiden es bis zum Bahnhof. Fredis Mutter kaufte Fahrkarten und sie nahmen auf Holzbänken in einem Abteil des Zuges Platz. Inzwischen hatte Fredi Hunger und Durst bekommen. Seine Mutter holte den Proviant aus dem Rucksack und er bekam eine Schnitte Brot, ein abgepelltes Ei und Waldmeisterlimonade. Der Zielbahnhof war Offleben, eine kleine Grenzstadt in der Nähe von Helmstedt im Westen. Während der Fahrt vertrieb er sich die Zeit mit dem Zählen der vorbeiziehenden Telegrafenmasten. Im Zugabteil vermischte sich stattdessen ihr Essensgeruch mit dem Qualmgestank der Dampflok. Nach der Fahrt stiegen sie in Offleben aus und gingen in Richtung Braunkohletagebau, den seine Mutter bereits kannte. Vor dem Gelände des Tagebaus stießen sie auf eine Gruppe von anderen Grenzgängern. Fredi viel auf, dass er das einzige Kind unter ihnen war. Nun warteten sie noch auf den Grenzführer und das Hereinbrechen der Dunkelheit. Als der Grenzführer eintraf setzte sich der Treck in Bewegung. Ganz leise gingen sie im Gänsemarsch den schmalen Pfad oberhalb der Halde entlang. Durch Lücken in den Buschreihen konnte Fredi im Halbdunkel in der Tiefe Lichter und große Maschinen erkennen. Als sie das Ende des Tagebaus erreichten, eröffnete sich ihnen der Blick auf eine befestigte Straße mit einem Graben und dem angrenzenden Wald. Im nu veränderte sich die Stimmung in der Gruppe, denn plötzlich waren alle aufgeregt. Leise tuschelten sie über das weitere Vorgehen. Der Grenzführer ging nun mit ihnen über die Straße, um über den Graben das Waldstück in der Westzone zu erreichen. Leise gingen alle in gebückter Haltung hinterher. Plötzlich und unerwartet sprangen zwei russische Grenzsoldaten mit Maschinenpistolen und Hunden aus dem Graben. Laut schrieen sie „Stoi, Stoi“. Verdutzt blieb die Gruppe stehen und ließ sich von den Soldaten mit ihren umhängenden Gewehren festnehmen. Selbst Fredi war jetzt klar, dass sie gefasst wurden. Er hatte Angst und hielt sich an seiner Mutter fest. Eskortiert von den beiden Soldaten wurde die Gruppe an eine Sammelstelle gebracht, an der sich bereits eine größere Gruppe von gefassten Grenzgängern befand. Der Grenzführer war inzwischen nicht mehr zu sehen. Nur kurze Zeit später wurden sie von den Grenzsoldaten mit Hunden abgeführt. Fredi erinnert sich daran, wie sie in der Dunkelheit an einem beleuchteten Kirmesmarkt vorbeikamen, deren Besucher wenig Notiz von ihnen nahmen. „Was machen die jetzt mit uns?”, fragte Fredi aufgeregt. „Weiß ich nicht“, sagte seine Mutter im Weitergehen. Schließlich wurden sie in eine große Turnhalle geführt, in der sich viele Menschen befanden. Auch hier war er wieder das einzige Kind. „Sie alle waren also festgenommen worden“, überlegte er. Eine längere Kontrolle mit Verhören stand seiner Mutter bevor. Hundemüde legte sie Fredi auf eine schmale Turnbank, auf der er sofort einschlief. Fredi wurde nur wach, wenn seine Mutter wieder zum Verhör aufgerufen wurde. Wenn sie zurückkam, berichtete sie ihm die Einzelheiten. Als es morgens hell wurde, fragte Fredi seine Mutter „was machen wir jetzt?“ Erst als seine Mutter den Bewachern eine Rückfahrkarte vorlegen konnte, ließ man die beiden wieder frei. Für die Rückfahrt kaufte die Mutter noch Milch und Brötchen, die sie im Zugabteil verzehrten. Fredis Mutter wusste, dass er Hunger und Durst hatte. Seine Mutter ließ sich die Enttäuschung nicht anmerken, als Fredi fragte, „warum fahren wir jetzt wieder nach Hause?“. Auf der Rückfahrt zählte er wieder die vorbeiziehenden Telefonmasten. Als sie am Nachmittag in Köthen eintrafen, wusste er, dass sie jetzt nicht zu Fuß gehen mussten. Sein Vater staunte nicht schlecht, als die beiden wie zwei begossene Pudel zu Hause eintrafen. Niemand hatte im Ort etwas von dem misslungenen Grenzübertritt erfahren.

Erst vier Jahre später sollte ein Westbesuch möglich werden. Diesmal hatte Fredis Mutter eine Einreisegenehmigung besorgt. In Magdeburg trafen sie auf einen überfüllten Interzonenzug Richtung Westen. Diese Züge waren immer überfüllt. Sie hatten Mühe das Gepäck zusammenzuhalten. Fredis Mutter reichte es durch ein offenes Zugfenster in den Waggon und mit Kraft zwängten sie sich in den Zug. In der Ziehharmonika der geschlossenen Plattform zwischen zwei Waggons nahmen sie auf ihren Gepäckstücken Platz. Es rüttelte sie ordentlich durch, es zog und roch nach Qualm und Schweiß. Obwohl sie dieses Mal nicht in einem leeren Abteil saßen und Fredi keine Telegrafenmasten zählen konnte, wussten sie, dass sie jetzt in Westdeutschland ankommen werden.