Die Ankunft im Lager


Die Ankunft im Lager aus dem Roman Katharina, der letzte Winter im Buchenland von Alfred Wanza

Umso größer ist dass Entsetzen, als sie sich in kleinen Zimmern mit ringsherum aufgebauten Doppelstockbetten in einem Sammellager wiederfinden. Katharinas Familie hat Glück im Unglück, weil sie allesamt in einem Zimmer unterkommen. Katharinas Vater kann sich den Kommentar nicht verkneifen: »In anderen Räumen müssen drei Familien zusammen leben. Da haben wir noch Glück gehabt«. In anderen Zimmern befinden sich zwei und mehr Familien. Erst hinterher müssen sie feststellen, dass sie hier fasst zwei Jahre ausharren müssen. Katharina ist so entsetzt, dass sie laut schimpft: »Wo sind wir hier gelandet?«. Ihr Vater ist auch wütend und fragt sich: »In diesem Zimmer mit acht Doppelstockbetten sollen wir jetzt leben?«. »Ich hab ja gleich gesagt, dass die uns belügen«, bricht Katharina in Tränen aus. Jetzt gibt auch noch Otto seinen Senf hinzu: »So kann ich nicht leben, alle auf einem Haufen«. In den Räumen in dem alten Schloss werden mehr als Tausend Umsiedler untergebracht. Nur einmal in der Woche dürfen sie nach einem Plan zum Duschen ins Waschhaus. Mütter mit Kleinkindern dürfen hier täglich rein. »Wenn ich mich morgens wasche, müssen alle aus dem Raum raus«, gibt Katharina zu verstehen. Die anderen Familienmitglieder stehen stumm da und blicken auf den Tisch, auf dem eine Blechschüssel und ein Wasserkrug stehen. Ihr mitgebrachtes Gepäck können sie nur unter den Betten verstauen oder in einem Magazin einschließen lassen. Alle sind so schockiert, dass sie sich auf den Betten niederlassen. Die Kinder laufen in der Zeit durch die Flure und erkunden das Gebäude. Das löst bei Katharinas Mutter die Befürchtung aus: »Hoffentlich finden die Kinder zurück?« Am Ende führt es dazu, dass sie sich nur zum Schlafen, Waschen und Anziehen in die vollgestopften Räume begeben. Gott sei Dank gibt es einen großen Aufenthaltsraum, den sie benutzen können. In diesem Raum werden auch die Mahlzeiten eingenommen. In einem Wartesaal treffen die Umsiedler zusammen und lassen ihren Frust ab. Sie sind kopf- und sprachlos. Die ein gesetzten Helfer greifen nicht ein. Die Mahlzeiten werden eine halbe Stunde vorher schrill von elektrischen Klingeln auf den Fluren eingeläutet. Da nicht alle Menschen auf einmal Platz haben, werden drei Schichten gebildet, die zu unterschiedlichen Zeiten das Essen einnehmen. Um das Chaos in Grenzen zu halten, sind die Sitzplätze nach Familien zugeordnet. Ein Mal gibt es eine riesige Aufregung, weil in dem Gedränge ein Kind von den Armen der Mutter in den großen, heißen Suppentopf gestürzt ist. Niemand kann dem Kind helfen. Es stirbt. Auch das Essen ist für die Menschen gewöhnungsbedürftig. Morgens besteht es aus ein bis zwei Scheiben Brot mit Margarine, die sie bisher nicht kannten, Marmelade und Milchkaffee. Mittags gibt es meist Suppen und zum Abendbrot wieder ein bis zwei Scheiben Graubrot mit Margarine, Wurst und Tee. Ihre geliebte Milchsuppe, die Mamaliga (Polenta) und die frischen Zutaten vermissen sie sehr. Heilig Abend bekommen die Umsiedler etwas Besonderes. Bockwürstchen mit Kartoffelsalat. Die Verantwortlichen bedachten allerdings hierbei nicht, dass die Buchenländer an diesem Abend nur Fastenspeisen essen. Das Schlimmste aber ist, dass sie keine Arbeit haben und nur zum Rumsitzen verdonnert sind. Einige lassen sich daher für irgendwelche Dienste einteilen. An diese Situation können sich die Familien nicht gewöhnen. Wenn sie zusammensitzen sprechen sie über ihre neu en Sorgen und Nöte. »Wie sollen wir das überleben?«, quillt es aus Katharinas Mutter heraus. Nur langsam verstehen die Menschen was geschehen ist. Die Familie versucht das Beste aus dieser Situation machen. Katharinas Mutter ist froh, dass die Kinder jetzt in eine deutsche Schule kommen. In der Zeit, in der die Kinder die Schule besuchen, müssen die Erwachsenen viele Befragungen und Untersuchungen über sich ergehen lassen. Man berichtet ihnen von Durchschleusung und Gesund heitsuntersuchungen. Auch die Werbetrommeln für das Nazisystem werden gerührt. Sie hören vom tausendjährigen Reich und Hitlers Errungenschaften und, dass sie zu »richtigen Deutschen« erzogen werden. Die Menschen können mit diesen Aussagen nicht viel anfangen. Immer wieder fallen ihnen die vielen Hitlerbilder und Fahnen auf. Katharinas Vater hat die Situation erkannt: »Die Nazis belügen uns. Wir sollen das von Hitler besetzte Polen eindeut schen und unsere Burschen der Wehrmacht überlassen. Für unser Häuser bekommen sie Rohstoffe für den Krieg«. Ihnen fällt auf, dass die SS-Verwaltung hinter den jungen Männern her ist. Nach einigen Tagen berichtet Otto stolz: »Ich komme zur SS. Schon in zwei Wochen soll meine Ausbildung in München beginnen. Ich bin froh, dass ich hier rauskomme«. Hinterher erfahren sie, dass die SS Vorrechte für die Einziehung besitzt. Zur Wehrmacht können sie nur, wenn sie deutsche Papiere in der Hand haben. Auch Katharina kommt Tage später mit der Botschaft nach Hause: »Mir hat man eine Ausbildung zur Kinderpflegerin in Greifswald angeboten. Ich habe das Angebot noch nicht angenommen, weil mir in letzter Zeit immer übel ist«. »Mach die Ausbildung, dann kommst du hier aus diesem Elend heraus«, empfiehlt ihr ihre Mutter. »Ich warte lieber noch ab, vielleicht geht es mir bald besser«. »Du wirst doch nicht in anderen Umständen sein?«, gibt ihre Mutter zu bedenken. »Mama, das kann alles sein, aber warten wir ab. Sprich bitte mit Niemand darüber«, vertraut sie ihrer Mutter an. »Kind, du weißt, das können wir jetzt gar nicht gebrauchen«, beendet ihre Mutter dieses Thema. Es sind Tage und Wochen vergangen, als Katharina ihre Mutter wieder anspricht: »Ich war beim Arzt. Der Arzt hat festgestellt, dass ich im vierten Monat schwanger bin«. »Jetzt ist mir auch klar, warum du so viel bei Viorel warst?«, gibt ihr ihre Mutter zu verstehen. »Mama, was soll ich jetzt machen, ihr müsst mir helfen«, kommt es beschwörend von Katharina zurück. »Dann wird das ein Blumenkind«, kann sich ihre Mutter nicht verkneifen. »Was ist ein Blumenkind?«, hinterfragt Katharina. »Ein Blumenkind ist ein Kind, dass auf einer bunten Wiese entstanden ist«, kommt es zurück. Jetzt wissen Beide nicht, ob sie lachen oder weinen sollen. »Das wird für uns nicht einfach. Was werden die Menschen im Lager dazu sagen«, kommt von ihrer Mutter. Lange lassen sich die Umstände von Katharina nicht verheimlichen. Während die Menschen im Lager hinter vorgehaltener Hand tuscheln, sagt ihr Vater gar nichts zu der Situation. Ob ihre kleinen Geschwister das mitbekommen haben, wissen sie nicht. Monate später kommt Katharina zu ihrer Mutter: »Ihr müsst mich ins Krankenhaus bringen, ich glaube es ist soweit!«. Es ist schwierig ein Auto zu besorgen und sie in das nächste Krankenhaus zu bringen. Es dauert einige Zeit, bis die frohe Botschaft verkündet wird: »Katharina hat einen gesunden Jungen zur Welt gebracht«. Jetzt freut sich nicht nur die Familie, sondern auch die Umsiedler in der Umgebung freuen sich. Jedenfalls tun sie so. Die große Überraschung kommt dann von der Lagerveraltung. Katharina und das Neugeborene bekommen ein eigenes Zimmer, denn Geburten sind willkommen. »Gut, dass ich jetzt in der Küche arbeite, dann kann ich etwas Essen für uns abzweigen«, gibt Katharinas Mutter eines Tages beim Auspacken von Brot und Wurst zum Besten. Ihr Vater arbeitet inzwischen in einem Betrieb im Ort und kommt abends hungrig nach Hause. Von Otto hört man nichts. Der befindet sich in einer Ausbildungskompanie in München. Das Gute ist, dass Katharina jetzt mit dem Neugeborenen in ihr eigenes Zimmer einziehen kann. Sie strahlt vor Glück. Das überträgt sich auf die ganze Familie und die Menschen in der näheren Umgebung. Die Umsiedler haben inzwischen im Lager gesammelt und Kleinigkeiten besorgt, die Katharina jetzt gut gebrauchen kann. Soviel Solidarität hat sie nicht erwartet. Sogar ein Kinderbett und eine Wickelkommode findet sie im Zimmer vor. Die trübe Stimmung im Lager scheint sich hierdurch aufzuhellen. Alle freuen sich mit Katharina. Niemand hätte erwartet, dass ein Baby soviel Hoffnung verbreitet. Da lässt sich Katharinas Mutter zu der Aussage hinreißen: »Soviel Hilfe von vielen Seiten habe ich nicht erwartet. Gemeinsam werden wir das Kind groß ziehen«. Auch ihre Geschwister sind begeistert. Es vergehen Tage, Wochen und Monate. Inzwischen haben die Umsiedler ihre Einbürgerungsurkunden erhalten. »Jetzt sind wir auch auf dem Papier Deutsche«, gibt Katharinas Vater zum Besten. »Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir ein neues Haus bekommen«, schiebt er nach. Nach den offiziellen Befragungen werden die Umsiedler in drei Gruppen eingeteilt. Mischehen werden ausgesondert. Familien mit nichtdeutschen Mitgliedern sollen ins Altreich. Nur reindeutsche Familien werden in Oberschlesien angesiedelt. Dass es sich dabei um von den Nazis in Polen besetzte Gebiete handelt, erfahren sie erst später. Inzwischen sind viele Umsiedlerfamilien aus dem Lager ausgezogen. Auf diese Weise werden Bekannte und Familien auseinander gerissen. »Wir werden sehen, was mit uns geschehen wird?«, gibt sich Katharinas Mutter optimistisch. Eines Tages kommt der Lagerkommandant zur Familie und sagt ihr: »Nächste Woche werden Sie das Lager verlassen, weil Sie angesiedelt werden«. »Was das wohl sein wird?«, fragt Katharinas Vater. »Ihr werdet es sehen!«, ist die Antwort des Lagerverantwortlichen.