Die Ausreise

Die Ausreise

Die Zeit vor der Ausreise behielt Fredi in schlechter Erinnerung. Damals wechselte sich das Interesse an der neuen und der Verlust der alten Heimat in seiner Gefühlswelt ab. Auch hatte er einen Teil seiner kindlichen Unbefangenheit inzwischen eingebüßt. Er hatte die Anstrengungen seiner Mutter mitbekommen, die immer wieder neue Ausreiseanträge stellte, für die viel Papier und lange Laufwege erforderlich waren. Allein das Ausreisevorhaben hatte ihn befangen gemacht; er war nicht mehr der unbefangene Junge. Vielleicht hatte er auch so etwas wie ein schlechtes Gefühl. Sich davon machen, hieß es damals im Osten. Auch wenn es viele Gründe gab, die DDR zu verlassen. Immer wieder hatte er vorher erlebt, wie Nachbarn, Bekannte und Klassenkameraden plötzlich verschwanden. Obwohl Fredis Familie offiziell im Rahmen einer Familienzusammenführung ausreisen wollte, war ihr Leben nicht einfacher geworden. Sein Vater hatte sich mit der Situation im Osten abgefunden und kein großes Interesse an einer Ausreise gezeigt. Seine Mutter war die treibende Kraft und strebte Veränderungen an. Sie erkannte die Situation in der DDR, in der Fredi keine Zukunftschancen gehabt hätte. Mit der dörflichen Lage und mit zwei alten Eltern erschien ihr die Lage aussichtslos. Ein weiterer Grund seiner Mutter war, dass sie aufgrund der Geschehnisse im Zweiten Weltkrieges und den Fluchtereignissen eine pazifistische Meinung hatte. Sie hätte alles dafür getan, Fredi den Militärdienst zu ersparen. Sie wäre mit ihm in die Schweiz gegangen, wenn sie dadurch den Militärdienst hätte verhindern können. So sehr hatte sie der Verlust seines gefallenen Bruders belastet. Die Tatsache, dass der Rest der Familie im Westen lebte, trieb sie alle an.  

Mit jedem Schritt, mit dem Fredis Mutter mit den Behörden weiterkam, konkretisierten sich ihre Umzugsgedanken. Es gab bereits nur noch wenig Freunde. Entweder beneidete man die Familie wegen des Ausreisevorhaben oder man betrachtete sie als Staatsfeinde. Die Monate bis zum eigentlichen Umzug wurden immer schwieriger. Es fühlte sich an, wie ein Leben im Vakuum. Fredi wurde in der Schule zwar nicht schlecht behandelt, er hatte aber das Gefühl, dass man ihn zunehmend ignorierte. Vor allem seine Lehrer. Ähnlich war es auch mit seinen Freunden. Man mied die Nähe zu Fredi und seinen Eltern, vielleicht auch um sich selbst nicht in ein vages Licht zu rücken. Vielleicht wollte man sich damit auch selbst schützen. Während Fredis Mutter nach Genehmigung der Ausreise Euphorie versprühte, fühlte er sich aus dem Dorfverbund ausgeschlossen. Er mied daher auch die meisten Kontakte. In dieser Zeit hatte seine Mutter viel zu organisieren, so dass ihr das vielleicht nicht auffiel. Für einige Tage kam sein Schwager aus dem Westen, um bei den Umzugsvorbereitungen mitzuhelfen.

Mitte September 1955 war es soweit, als ein LKW einer Spedition rückwärts in die Toreinfahrt fuhr. Als sie mit Hilfe eines Spediteurs ihre  wertlosen Habseligkeiten aufluden, erschienen die Nachbarn. Aufgeladen wurde das Schlafzimmer, Vitrinen,  Hausrat, Bettwäsche und Kleidung. Es war ein kompletter Hausstand, der die offizielle Ausreise legitimierte. Einiges hatten sie nicht mitgenommen, verschenkt oder verkauft. Fredi weiß nicht mehr, was mit den Tieren und den Vorräten geschah. Er vermutet, dass seine Eltern sie ebenfalls verkauft oder verschenkt hatten und die Besitzurkunde für das Ackerland der Gemeinde aushändigten. Heute weiß er, dass er mit dieser Situation überfordert war. Alles, was sich in seinem bisherigen Leben abspielte, musste er hinter sich lassen.

Die Spedition hatte den Auftrag auf dem Güterbahnhof in Köthen die Gegenstände in einen bereitstehenden Güterzugwaggon zu verladen, der für die grenzüberschreitende Fahrt in die Bundesrepublik verplombt wurde. Schwer war für ihn und die Familie die Verabschiedung von Nachbarn und Bekannten. Es war kein richtiger Abschied, es war eher eine leise Flucht. Als er mit seinen Eltern in Köthen auf dem Bahnhof ankam, richteten sich die Gedanken auf die Abwicklung und Unsicherheit bei der Grenzüberschreitung. Das Bahnhofsgelände in Köthen hatte Fredi beeindruckt und vielleicht auch abgelenkt. Als er vor Schreck auf die Toilette musste, war er in seiner Aufregung mit der Bedienung der Wasserspülung überfordert, denn er kannte nur Plumpsklos. Ihre Zugfahrt verlief parallel zum Transport des Güterwaggons, der an der DDR-Grenzkontrollstelle Vorsfelde vom Zoll kontrolliert wurde. Fredi erinnert sich, wie sie an dieser Grenzstation ausstiegen und seine Eltern mit den Zollbeamten die Listen durchgingen. Bei der Zollabfertigung gab es keine Probleme, so dass sie die Weiterfahrt organisieren konnten. Da ihr Zug in den Westen erst am nächsten fuhr, fanden Fredis Eltern eine Übernachtungsmöglichkeit in der Bahnhofsmission zwischen den Bahnsteigen auf dem Bahnhof. Trotz vorbeidonnernder Züge schlief Fredi in dieser Nacht schnell ein. Er hatte mitbekommen, wie seine Eltern Kontakt zu Einreisenden in die DDR hatten. Ein Ehepaar mit einem kleinen Mädel aus der Bundesrepublik siedelten in die DDR um. Später stellte sich Fredi schmunzelnd die Frage, ob das kleine Mädchen vielleicht Angela hieß? Er kann sich daran erinnern, wie seine Eltern Geld für die Übernachtung in eine Spendendose steckten. Auf der Weiterfahrt am nächsten Tag blickte Fredi die ganze Zeit aus dem Abteilfenster, um die Grenzüberquerung nicht zu versäumen. Als plötzlich die roten Backsteingebäude, die Schornsteine und vielen Autos in ihr Blickfeld kamen, wus-sten sie, dass sie Wolfsburg passierten und in Westdeutschland angekommen waren. Wenn Fredi heute bei Bahnfahrten an dem VW-Werk in Wolfsburg vorbeifährt, denkt er jedes Mal an die Ankunft im Westen. 

Ankunft in Westdeutschland  

Nach Ankunft auf dem Hauptbahnhof Hannover fuhr Fredi mit seinen Eltern mit der „roten Elf“ nach Sarstedt. Aus der Straßenbahn sah er sich die neue Heimat an, die ihm durch den Besuch mit seiner Mutter nicht mehr ganz fremd vorkam. Hier bezogen sie bei seiner Schwester zwei Räume und hofften so die Einweisung in das Lager Friedland zu verhindern. Für die Registrierung waren bei den Behörden in Westdeutschland konkrete Voraussetzungen zu erfüllen. Da Fredis Vater kein eigenes Einkommen hatte, wurde die Einweisung in ein Übergangslager angeordnet, was sein Vater durch eine schnelle Anstellung verhinderte. Damit waren die finanziellen Sorgen der Familie aber noch nicht vom Tisch. Um Fredi nach westlichem Standard einzukleiden, rodete er und seine Mutter in den Herbstferien vier Morgen Zuckerrüben. Von dem hart verdienten Geld wurde er „westlich“ eingekleidet. Durch die Arbeit auf dem Feld fehlte ihm allerdings die Zeit für die Vorbereitung auf den Schulunterricht. Während Fredis Eltern mit den Unbilden des Alltags kämpften, stand für Fredi das neue Schulleben im Mittelpunkt. Hier wurde ihm ein alter Nazi-Klassenlehrer zugewiesen, der ihn offensichtlich nicht mochte. In der neuen Schulklasse musste Fredi viele Schwierigkeiten durchleben. Die Lehrstoffinhalte zwischen dem was er kannte und dem was er hier vorfand waren recht unterschiedlich. Auch die neue Unterrichtsform war für Fredi gewöhnungsbedürftig. Während in der DDR zum Beispiel Schulsport diszipliniert ablief, lief der Sport im Westen nebenher ab. Der Musiklehrer ließ im Sportunterricht einen Flötenspieler auftreten, nach deren Flötentönen die Schüler gymnastische Übungen abhielten. Im ostdeutschen Sportunterricht waren sie in Leistungsriegen eingeteilt und wurden nach Punkten bewertet. Der Musikunterricht in Westdeutschland wurde von seinem Klassenlehrer, der mit Musik nicht viel am Hut hatte, direkt wahrgenommen. Als eines Tages die Benotung anstand, sollte Fredi vor der Klasse vorsingen, was er als Gemeinheit empfand. Weil er nur Pionierlieder kannte und ein dörfliches Paschleber Platt sprach, hätte er ein riesiges Gelächter in der Klasse ausgelöst. Aus diesem Grund hatte er seinen Vortrag verweigert, wofür er sich gleich eine schlechte Note in Musik einhandelte. Nach und nach musste Fredi in Westdeutschland feststellen, dass hier die Uhren anders gingen und nicht alles Gold war, was glänzte. Die Teilung Deutschlands war so tief verankert, dass er das Gefühl hatte aus einer fremden Welt hier eingedrungen zu sein. Seine Mitschüler wussten nicht, was sich auf der anderen Seite des Vorhangs abspielte. Sie kannten sich auch nicht geografisch im Osten aus. Wenn Fredi während des Unterrichts in seiner Mundart antwortete, löste er unter den Klassenkameraden schallendes Gelächter aus. Um sich schnell anzupassen, hatte Fredi innerhalb von wenigen Monaten seine mitgebrachte Mundart durch niedersächsisches Deutsch abgelöst. Seine Kurzsichtigkeit, die auch hier niemand erkannte, brachte Fredi oft zur Verzweiflung. Später fand er einen Lehrer, der seine Kurzsichtigkeit erkannte und ihn in der ersten Bankreihe platzierte, statt ihn zum Augenarzt zu schicken. Auch andere Einzelheiten fielen ihm auf. Selbst der Pfarrer im Religionsunterricht hinterfragte nicht Fredis Herkunft. Die Gleichgültigkeit im Westen erschreckte ihn. Dafür, dass in Ostdeutschland die Kirchen nicht bevorzugt behandelt wurden, waren Pfarrer umso engagierter. Während hier im Ort Kirchenpakete verteilt wurden, fragte niemand wie es ihnen geht und woher sie kommen. Ein kleiner Lichtblick für Fredi war, als er von seiner Schwester ein gebrauchtes Fahrrad geschenkt bekam. Auch wirtschaftlich hatten sie sich den „goldenen Westen“ anders vorgestellt. Um finanziell über die Runden zu kommen, hatte Fredi ein Jahr später in den Sommerferien mit seiner Mutter in der Lüneburger Heide Heideblüten-Körbchen gebunden und an der Bundesstraße verkauft. Sie waren zwar in Sicherheit und Freiheit, aber in einer gleichgültigen Gesellschaft angekommen. Das führte dazu, dass sich Fredi nicht angenommen fühlte und sich auch hier zurückzog.