Die zahme Elster

Die zahme Elster

In den langen Sommerferien stromerten Fredi und seine Freunde nur mit Turnhose und Hemd bekleidet barfuss durch Feld und Flur. Zum Ende ihrer Sommerferien setzten sie noch ihren Plan um. Von Elstern wussten sie, dass sie alles was glänzt in ihr Nest bringen. Sie waren der Meinung, dass auch wertvolle Funde dabei sein könnten. Deshalb machte sich Fredi und die beiden Brüder auf die Suche nach einer Elster. Bäume waren für sie kein Hindernis. An einem Freitag im August hatte Jochen Neues zu berichten: „Mein Bruder und ich haben ein Elsternnest entdeckt. Das Nest im Baum können wir gut erreichen. Wir haben gesehen, wie die beiden jungen Elstern gefüttert wurden“. Er sagte aber noch: „Wir müssen uns beeilen, denn sonst fliegen die Kleinen aus dem Nest“. Neugierig fragte Fredi, wo sie das Nest entdeckt hatten. „In dem kleinen Wäldchen hinterm Dorf“, sagte Jochen genervt. „Das ist ganz schön weit raus“, bemerkte Fredi und fügte hinzu, „dafür brauchen wir bestimmt einen halben Tag“. Am nächsten Tag machten sie sich auf den Weg. Es war warm und die Sonne schien, als sie barfuss das große Stoppelfeld überquerten. Jochens Bruder Wolf Werner, den sie Werner nannten, war älter und kräftiger als sie. Bei Ringkämpfen auf dem Anger gingen sie ihm aus dem Weg. Auf dem Weg in das Wäldchen kamen sie an einer langen Kirschbaumallee vorbei. Sie nahmen sich vor, auf dem Rückweg einen Stopp einzulegen und in die Bäume zu klettern. Als Fredi und die beiden im Wäldchen auf einen Pappelbaum zugingen, rief Werner: „Da oben ist das Nest. Eine junge Elster kann ich erkennen“. Als sie das Nest mit der jungen Elster inspizierten, trauten sie ihren Augen nicht. Werner sollte Schmiere stehen und Fredi und Jochen kletterten in die Pappel. Sie kamen nur zur Hälfte an das Nest, als sie erkennen mussten, dass das Nest leer war. Im gleichen Augenblick rief Werner von unten: „Da ist sie, da ist sie. Als sie euch gesehen hat, ist sie weggeflogen“. Sie kletterten vom Baum und erkannten schnell, dass die junge Elster noch nicht richtig fliegen konnte. Nachdem sie die junge Elster einkreisten, flatterte sie Werner in die Arme. Er griff zu und hielt sie in seinen Händen. „Ich hab sie, ich hab sie“, rief er aufgeregt. Jochen sagte zu seinem Bruder: „Du hast wieder Glück gehabt“. Stolz machten sich die drei auf den Heimweg. Werner gab die junge Elster nicht mehr aus seinen Händen. Fredi und Jochen durften sie nur mal berühren. Als sie an den Kirschbäumen vorbei kamen, sagte Werner: „Wir wollten noch Kirschen pflücken. Ich passe auf, wenn ihr in die Bäume klettert“. Gesagt, getan, kletterten Fredi und Jochen in die Bäume, während Werner mit der Elster aufpassen sollte, ob jemand kommt. Obwohl die Bäume schon abgepflückt waren, hingen noch viele Kirschen an den Zweigen. Bevor Fredi und Jochen in die Bäume kletterten schnürten sie ihre Hemden mit Bindfäden zu. So konnten sie die gepflückten Kirschen einfach in das Hemd stecken. Dass Werner mit der Elster Schmiere stand, war ein Fehler. Werner war so sehr mit dem Vogel beschäftigt, dass er ein herankommendes Motorrad nicht rechtzeitig bemerkte. Jochen rief plötzlich: „Da, da kommt ein Motorrad“. „Nichts wie runter“, rief Fredi aufgeregt. Im nächsten Moment sprangen sie schon aus den Bäumen, aber der Mann mit dem Motorrad war nicht mehr weit weg. Er hatte es auch auf die beiden abgesehen, als sie hinter eine Scheune liefen. Jochen rief: „Komm, wir verstecken uns hier“. Fredi und Jochen sahen wie der Mann auf dem Motorrad sie verfolgte. Beide rannten um ihr Leben. Für den Motorradfahrer war es ein leichtes Spiel hinter ihnen her zu fahren, weil sie nicht in die Scheune rein konnten. Als sie merkten, dass das Motorrad immer näher kam, zogen sie ihre Hemden aus dem Bindfaden und die Kirschen hinterließen eine Spur. Es dauerte nicht lange, als der Motorradfahrer die beiden überholte und vor ihnen stehen blieb. Fredi und Jochen erkannten nun den Bürgermeister mit seinem Lederhelm. Der Dorfbürgermeister drehte seine Inspektionsrunden. Er erkannte sie: „Ach ihr seid das, Jochen und Fredi ist auch dabei. Fredi, das werde ich deinem Vater erzählen“. Fredis Vater arbeitete in der Gemeinde und hatte im Sommer selbst die Aufsicht über Obstbäume. So ein Pech dachte Fredi. Als er am nächsten Tag von seinem Vater deswegen angesprochen wurde, gab er alles zu. Sein Vater erzählte, dass ihm der Bürgermeister augenzwinkernd vom Kirschenklauen erzählte“. Fredi viel ein Stein vom Herzen.

Die Drei beschäftigten sich inzwischen mehr mit der Elster. Jochen und Werner wohnten mit ihren Eltern im Pfarrhaus, in einem schönen Haus mit Garten und Stall. Vom Hof aus kamen sie über eine Leiter auf den Dachboden des Stalls. Für Jochen war schon vorher klar: „Hier bauen wir der Elster ein Nest“. Wie die Elster damit zurecht kam, war ihnen in diesem Moment gleichgültig. Sie richteten ihr ein gemütliches Nest ein und kümmerten sich um Würmer und gaben ihr Ziegenmilch zu trinken. Sie sollte es gut bei ihnen haben. Sie konnten es kaum erwarten, die Elster fliegen zu lassen. Natürlich hofften sie, dass sie einen golden Ring in ihr Nest zurückbringt. Jochen, Werner und Fredi verabredeten sich die Elster in zwei Wochen fliegen zu lassen. Als Jochen Fredi eines Tages aufsuchte, wusste er sofort Bescheid. „Fredi, komm heute Abend zu uns, wir wollen die Elster fliegen lassen“, sagte Jochen über beide Backen grinsend. Fredi bestätigte ihm das Treffen: „Ich bin gespannt, ob sie zurückkommt“. Am Abend trafen sie sich vor dem Stall. Jochen kletterte die Leiter hoch und kam mit der Elster in der Hand herunter. Sie hatten lange gezögert, bevor Jochen sie mit den Worten: „Flieg, schöner Vogel und komm zurück“, in die Freiheit entließ. Die Elster flog von seiner Hand auf den großen Nussbaum, der im Hof stand. Von dort blickte sie zur Bodenluke und flog dann weg. Die Bodenluke blieb geöffnet, obwohl sie nicht mit einer Rückkehr der Elster rechneten. Zu dritt saßen sie nun auf der Bank vor dem Stall und warteten. Etwa nach einer halben Stunde kam ihre Elster zurück und ließ sich auf dem Nussbaum nieder und blickte zu der offenen Bodentür. Es dauerte nicht lange, bis sie in ihr Nest zurückflog. Sie waren außer sich vor Freude und übersahen dabei, dass sie keinen goldenen Ring mitgebracht hatte. „Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Fredi die beiden. Werner sagte nur: „Die lassen wir jetzt jeden Abend fliegen. Wenn sie länger weg bleibt, wird sie bestimmt etwas finden“. Sie waren sich schnell einig. Als Uhrzeit hatten sie jeden Nachmittag vier Uhr vereinbart. Es war klar, dass niemand von ihnen dieses Treffen vergessen würde. Dieses Spiel wiederholte sich, obwohl die Elster nie etwas Glänzendes nach Hause brachte. Der Spaß mit dem Vogel aber
überwog. Eines Tages setzten sie der Elster eine besondere Mahlzeit vor. Sie hatten Stichlinge, kleine Fische, im Dorfteich gefischt und zerkleinert der Elster zum Fressen vorgeworfen. Es schien ihnen, dass sich die Elster darüber sehr freute.

Aber schon einen Tag später kam Werner mit trauriger Mine zu Fredi, um ihm zu sagen: „Unsere Elster ist tot. Warum sie gestorben ist, weiß ich nicht“. Fredi war erschüttert
über diese Nachricht und ging gleich mit Werner mit. Jochen hielt den toten Vogel in der Hand und fragte: „Was machen wir jetzt?“ „Natürlich beerdigen“, sagte Werner. „Vergraben?“ fragte Jochen. Sie legten sie in ein Tuch und vergruben sie an der Mauer im Garten und sprachen nicht mehr viel miteinander, als sie sich verabschiedeten.

Von nun an fielen die Treffen mit der Elster aus. Es dauerte einige Zeit, bis sie den Trennungsschmerz überwunden hatten. Im Dorf hatte sich inzwischen ihre Geschichte herumgesprochen.

Wer fängt heute schon eine Elster und wer kann sich vorstellen, dass sie nicht wegfliegt? Leider ist den Kindern heute die Natur nicht mehr so wichtig. Handys und die Anforderungen in der Schule lenken sie davon ab.