Dorfgeschichten

Dorfgeschichten

Fredi allein zu Hause

Fredi ist mal wieder allein zu Hause. Sein Papa war zur Arbeit und seine Mama nahm sich eine Auszeit. „Ich besuche mal kurz Frau Winzinger und bin bald wieder zurück“, sagte sie. Wie lange das dauern sollte wusste Fredi nicht. Es kann länger gedauert haben. Ihm ging bald jedes Zeitgefühl verloren. Einsamkeit und Angst machten sich bei ihm breit. Der Fünfjährige vermisste seine Mutter und die Geborgenheit, die sie ihm sonst gab. Sie war eine alte Mutter, und dass sah man ihr auch an. Mit fehlenden Zähnen, der einfachen Kleidung und einem schlichten Kopftuch unterschied sie sich von anderen Müttern. Auch sein Vater fiel durch seine Einfachheit und seine Aussprache auf. Diese Unterschiede zu anderen Dorfbewohnern konnte Fredi nicht einordnen. Schließlich war man in einer Gruppe gleicher Spezies aus der Ferne im Dorf angekommen und teilte das Schicksal mit anderen Gleichgesinnten. Die Altansässigen mussten sich ebenfalls mit der neuen Situation zu Recht finden und interessierten sich nicht sehr für die auffälligen Fremdankömmlinge, obwohl unterschiedliche Lebensgewohnheiten aufeinander prallten. Es war daher verständlich, dass sich bei Fredi versteckte seelische Wunden bildeten, die in Stunden der Einsamkeit unbemerkt aufbrachen. In seiner Not erwachten bei dem kleinen Buben Wünsche und Sehnsüchte, die allerdings nicht deutlich erkennbar waren. In dem kleinen einfachen Zimmer stand er auf dem Fensterbrett und sah den großen Schneeflocken nach. Die Faszination war groß und so verging die Zeit bis zur Rückkehr seiner Mama. Da der Blick aus dem Fenster sich auf eine graue Hauswand richtete, klopfte er laut an die Scheibe und rief seine Mama herbei. Nach Rückkehr hatte seine Mutter auch alle Hände voll zu tun, um seine Verzweiflung und Wut zu stillen.

Das rote Feuerwehrauto

Im Dorf trugen die Feuerwehrmänner alte Uniformen, was zu der veralteten Spritze auf großen Holzspeichenrädern, die von Hand bedient werden musste, passte. Es gab viel Aufregung im Dorf, wenn eine Feuerwehrübung angesagt war. Die Bewohner wussten manchmal nicht, ob es brannte oder ob es nur ein Spektakel war. Ein Feuerwehrmann mit Tute auf dem Fahrrad kündigte die Übung an. Es folgten mehrere Feuerwehrleute auf Fahrrädern, die dicke Schlauchrollen über ihren Schultern trugen und nach einem geeignet Brunnen Ausschau hielten. Kurze Zeit später schoben Feuerwehrleute schnellen Schrittes die große Pumpe auf Holzrädern heran. Als die Feuerwehrschläuche angeschlossen waren, nahmen die Männer nach einem Kommando die Handschwengelpumpe in Betrieb. Der Erfolg war ein schlapper Wasserstrahl. Bei einem tatsächlichen Feuer hätte das sicher nicht viel genutzt. In dem kleinen Dorf wäre ein Brand auch schnell bemerkt worden. Zum Glück brannte es so gut wie nie. Wenn es Mal gebrannt hätte, hätte die eigene Feuerwehr nicht viel ausrichten können und es hätte lange gedauert, bis die Feuerwehren aus den Städten zur Stelle gewesen wären.

Eines Tages traf ein rotes Feuerwehrauto aus der Stadt im Dorf ein, um mit den Kindern Rundfahrten zu unternehmen. Da sich dieses Ereignis schnell herumsprach, eilten die Mütter mit ihren Kindern herbei. Auch Fredis Mutter war mit ihm sofort zur Stelle, weil sie gleich gegenüber wohnten. Fredi freute sich schon auf die Fahrt mit dem Feuerwehrauto. Der Zulauf am Feuerwehrauto war aber so groß, das es zu einer chaotischen Situation kam. Fredi weiß noch, wie sich seine Mutter mit ihm auf dem Arm einreihte und versuchte ihn für eine Fahrt in das Feuerwehrauto zu bugsieren. Bei dem großen Andrang hatte seine alte Mutter keine Chance ihn im Auto unterzubringen. Während andere Kinder schon die dritte Runde mit dem Auto drehten, resignierten die beiden. Nach mehreren Versuchen gab seine Mutter schließlich auf und ging mit Fredi wieder nach Hause. Dieses negative Erlebnis ist bei Fredi bis heute in Erinnerung geblieben. Verzicht und Durchsetzung liegen eben dicht beisammen.

Das alte Fahrrad

Fredi war 10 Jahre alt, als er sich ein eigenes Fahrrad wünschte, obwohl er genau wusste, dass es schwer war an solch ein Gefährt zu gelangen. Zu dieser Zeit gab es keine Fahrräder. In den Geschäften gab es Fahrräder nur mit Beziehungen und gebrauchte Räder verkaufte niemand. Die meisten Fahrräder waren Vorkriegsmodelle. Seine Eltern begaben sich auf die Suche nach einem gebrauchten Fahrrad, obwohl sie keinerlei Beziehungen hatten. Eines Tages erfuhren sie, dass der Schrotthändler im Ort ein gebrauchtes Fahrrad zum Verkauf anbot. Fredi und sein Vater machten sich auf den Weg dorthin, um sich das Rad anzusehen. Fredi war voller Vorfreude, obwohl er sich nicht vorstellen konnte ein eigenes Fahrrad zu besitzen. Als sie ankamen holte der Schrotthändler ein schwarzes Fahrrad aus einem Schuppen und stellte es ihnen vor. Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, dass es ein aus Alt- und Schrottteilen zusammengesetztes Gefährt war, dass nach dem Zusammenbau schwarz angestrichen wurde. Schwarz, weil es keine andere Farbe gab. Es sollten wohl hauptsächlich die unterschiedlichen Teile verdeckt werden. Bei näherer Betrachtung war alles noch viel schlimmer. Der alte achtundzwanziger Rahmen war vorn mit einem sechsundzwanziger und hinten mit einem achtundzwanziger Rad bestückt. Man fuhr also von allein immer bergab. Dass die Schutzbleche verbeult waren, störte sie nicht sehr. Das Fahrrad besaß auch eine Handbremse, die durch Druck auf den Vorderreifen bremsen sollte. Nur gab es einen Schönheitsfehler der technische Unzulänglichkeiten aufwies. Um durchgefahrenen Stellen der alten Reifendecken abzudecken, wurden sie an mehreren Stellen mit Teilen aus anderen Fahrradmänteln überspannt. Als sie das sahen stellten sie sich die Frage, wie Bremsen mit der Handbremse funktionieren sollte. Obwohl Fredis Freude durch die Augenscheinnahme stark getrübt war, trat sein Vater in Preisverhandlungen ein. Immerhin ließ sich der Schrotthändler den Preis von 200 auf 150 Ostmark herunterhandeln. Fredi vermutete, dass es etwa auch der Monatslohn seines Vaters war. Fredi und sein Vater sahen sich verwundert an. Fredi sah ein, dass die Ausstattung des Rades und der Preis nicht zueinander passten. Obwohl es keine anderen Fahrräder gab, musste er Vernunft walten lassen und verzichtete freiwillig auf den Kauf. Ihm war auch klar geworden, dass dieses Fahrrad nicht lange funktionieren würde, weil es keine Ersatzteile zu kaufen gab. Um es wieder zu verschrotten, wäre es zu teuer gewesen. Fredi konnte bei seinem Vater die Erleichterung erkennen, als er den Verzicht erklärte. Allerdings hatte dieser Verzicht auch die Konsequenz zur Folge, dass Fredi immer noch nicht Fahrradfahren lernen konnte. Seine Freunde ließen ihn nicht auf ihre Fahrräder.

Der Wunsch nach einem eigenen Fahrrad blieb lange unerfüllt. Erst als er mit zwölf Jahren in Westdeutschland war, schenkte ihm seine Schwester das Fahrrad ihres Mannes, weil dieser nach einem Unfall nicht mehr damit fahren konnte. Fredis neuen Freunde waren erstaunt, was er aus dem alten Fahrrad gemacht hatte. Er hatte den Rahmen blau gestrichen und mit weißen Zierstreifen versehen. Die mit Silberbronze überpinselten Speichen sahen aus wie neu. Einige Jahre fuhr er dieses Gefährt, bis er sich von dem ersten selbst verdienten Geld ein neues Fahrrad kaufen konnte.

Die Freundschaft mit Peppi

Peppi, der eigentlich Josef hieß, lebte bei seiner Tante und Großmutter im Haus Hoppe. Ein schönes zweistöckiges Haus mit drei Haselnussbäumen zur Straße hin. Manchmal hatte sich Fredi mit Peppi heimlich auf den Boden geschlichen, um in dem vollgestopften Speicher eine geschichtliche Zeitreise zu unternehmen. Wie in einem Museum wurden hier Gegenstände und Möbel abgestellt, die nicht mehr dem Geschmack der Besitzer entsprachen. Die beiden erkannten, dass es sich um wertvolle Dinge handelte. Mit den alten antiken Möbeln konnten sie nicht viel anfangen. Dafür aber mit den ausgestopften Tieren, Bildern, Säbeln und alten Haushaltsgegenständen. Hierunter befanden sich viele Dinge, die die beiden in ihrem Leben noch nie gesehen hatten. Ihnen war klar, dass es keine armen Leute waren, die diese Sachen abgestellt hatten.

Der Innenhof hinter dem Haus war traditionell angelegt, wie die andern Bauernhöfe in der Region. Im hinteren Teil gab es eine Scheune mit großen Toren und ein Fabrikgebäude mit einem mehrere Meter hohen runden Ziegelsteinschornstein. Es handelte sich um eine stillgelegte Saftfabrik. Eine Tür im hinteren Teil des Hofes führte auf eine Straße, die sich zwischen den Bauernhöfen und den Gärten vom Friedhof bis zum Dorfteich zog. Sämtliche Grundstücke waren von meterhohen Steinmauern umgeben. Auf den Mauern befanden sich  Abdeckungen mit einbetonierten scharfen Glasscherben. Fredi, Peppi und seine Freunde kannten aber die Stellen an den Mauerwänden, an denen sie hochklettern konnten, weil die Glasscherben auf den Abdeckungen abgeschlagen waren. Als sie einmal zu mehreren in die Gärten vordrangen, wurden sie vom Eigentümer vertrieben. Wenn sie nicht schnell genug über die Mauer flüchten konnten, hatte häufig der Letzte das Nachsehen. Es gab rabiate Eigentümer, die dann ordentlich zuschlugen.

Peppi wurde von seiner Tante und Großmutter sehr verwöhnt. Er hatte Spielsachen, von denen Fredi nur träumen konnte. Stabilbaukästen, Kasperlepuppen, Spiele und viel mehr. Peppi, der etwas älter als Fredi war, lud ihn manchmal zum Spielen ein. Später, als Fredi schon im Westen war, klagte ihm Peppi sein Leid. Weil er opponierte durfte  seine Frau die Kinder nicht zu Hause behüten. Sie musste sie wie es das System verlangte, in der Kinderkrippe abliefern. Da er als Schrankenwärter bei der Bahn arbeitete, wurde er eines Tages in ein Schrankenwärterhaus weit vor den Toren Köthens versetzt. Die Arbeiten an der Kurbelschranke sollten von Peppi und seiner Frau durchgeführt werden. Daher blieb der Familie hier nichts anderes übrig, als die Kinder in den Kindergarten zu schicken. Nach der Wende besuchte Fredi Peppi in der Wohnung seiner Tochter in Köthen, die inzwischen selbst schon Kinder hatte. In weißen Gummistiefeln wollte er an einem Sonntag bei seinem Schwiegersohn Briketts für seine Wohnung holen. Er erzählte, dass es in dem Schrankwärterhaus zog und er im Winter kräftig heizen muss. Da die Pumpe hinter dem Haus nicht mehr funktionierte, konnte er das Wasser nur mit Leine und Eimer aus dem Brunnen schöpfen. Ob es Schikane oder Zufall war ist schwer zu beurteilen.

Die Hasenjagd

Fredi und sein Freund Gerhard brachen eines Tages im Winter mit einem großen Hund zur Hasenjagd auf. Gerhards Großvater hatte ihnen erzählt, dass sein großer Hund im Schnee schneller ist als Hasen. Sicherheitshalber nahmen sie noch Pfeil und Bogen mit. So stapften Fredi und Gerhard mit Hasso, so hieß der Hund, auf den Feldern durch den tiefen Schnee. Immer wenn sie einen Hasen aufscheuchten, rannte der Hund hinterher. Jedes Mal kam er mit raushängender Zunge ohne Beute zurück. Wegen dieser Erfolglosigkeit brachen sie irgendwann die Hasenjagd ab.

Dafür hatten sie im Sommer mehr Glück, als sie ein kleines wildes Häschen einfangen konnten. Sie sperrten es in einen Kaninchenstall und gaben ihm Heu und Möhren zu fressen. Das wilde Häschen verweigerte aber das leckere Fressen. Notgedrungen ließen sie es eines Tages wieder laufen.

Die Butterbemme

Fredis Mutter hat gerade in einer kleinen Milchkanne einige Liter Ziegenmilch an die Molkerei geliefert. Auf der Milchrampe fällt die kleine Aluminiummilchkanne neben den großen Milchkannen der Bauern auf, bevor sie auf einem großen flachen Pferdewagen in der Molkerei abgeliefert wird. Da der flache Pferdewegen täglich zur gleichen Zeit die Milchkannen zur Molkerei nach Köthen transportiert und mit Magermilch zurückkommt, pendeln auch schon mal Dorfbewohner zwischen Kleinpaschleben und Köthen hin und her. Als Fredis Schwester 1948 heiratet, fährt sogar die Hochzeitsgesellschaft damit von der Kirche in Köthen zurück in das Dorf. Fredi erinnert sich daran, als die erste Butter angeliefert wird und ihm seine Mutter auf frischem Graubrot eine Butterbemme nach der anderen schmiert. Das frische Brot und die frische Butter schmeckt Fredi so gut, dass er gleich mehrere Bemmen hintereinander isst. Die frischen Butterbemmen liegen ihm danach so schwer im Magen, dass er dem Rat seiner Mutter folgt und vor die Tür geht, um sich kräftig zu bewegen. Obwohl mit der Bewegung in frischer Luft sein Bauchweh behoben ist, freut er sich weiterhin auf Butterbemmen, auch weil er direkt an der Milchproduktion beteiligt ist. Im Sommer geht Fredi in der freien Zeit täglich mit den Ziegen und einer Gänseschar zum Anger. Hier werden die Ziegen angepflockt und die Gänse grasen an der Ziethe. Auf dem Anger warten derweil schon Fredis Freunde. Sie breiten Decken aus, auf denen sie sich Kinderwitze erzählen und Ringkämpe austragen oder Fußball spielen. Zwischendurch muss Fredi nach den Gänsen Ausschau halten. Sie schwimmen schon Mal über die Ziethe auf die benachbarten Felder. Er erinnert sich, wie sie einen alten Mann, der auf seine Gänse aufpasst ärgern. Hier auf dem Anger stehen in der Erntezeit zwei Dreschmaschinen, die von Dampfmaschinen angetrieben werden und viel Lärm verursachen. Auch Menschen und Getreidefuhrwerke verursachen viel Unruhe. Wenn Fredi mit den Ziegen und Gänsen vom Anger nach Hause geht, zupfen sie immer noch Gras an den Rändern. Auch die eigenen Tiere auf dem Hof kennen Fredi genau, denn er zog sie mit auf. Auf dem Hof kommen sie ihm immer entgegen. Bei der Bewirtschaftung der zwei Morgen Ackerland hilft Fredi seinen Eltern so gut es geht. Vielleicht kommt dabei die Schule zu kurz. Durch seine Kurzsichtigkeit hat er nicht viel Freude damit. Fredis Kindheit im Dorf ist abwechslungsreich. Neben kleinen Aufgaben, hat er immer Zeit, um mit anderen Kindern zu spielen. Sie stromern barfuß auf Feldern und in Bauernhöfen herum. Auf der Dorfstraße spielen sie Treibball und die Fußwege belegen sie mit allerlei Spielen. Mädchen spielen an den Wänden mit Bällen oder üben Handstand daran