Sommergäste


Sommergäste aus dem Roman Katharina, der letzte Winter im Buchenland von Alfred Wanza

Ein schöner Sommertag und die Vorfreude auf das Treffen mit Viorel löst bei Katharina Übermut aus. Sie hat frei und sich viel vorgenommen. Als die ersten Sonnestrahlen ihr Bett erreichen und sie von ihrer Mutter geweckt wird, kommt ihr bereits ein angenehmer Duft aus der Küche entgegen. Frisches Brot und Semmel wurden für die Sommergäste gebacken. Katharinas Mutter ist wieder früh aufgestanden. Das schlechte Gewissen treibt jetzt auch Katharina aus den Federn. Als sie aus dem Bett hüpft, sagt ihre Mutter zu ihr: »Sei leise, damit du nicht die Gäste aufweckst?«. Sie lächelt: »Gut, dass du mich daran erinnerst, dann kann ich mir heute Zeit lassen um mir noch einen Wunsch zu erfüllen«. »Wunsch erfüllen?«, fragt ihre Mutter. »Wirst du gleich sehen!«, sagt Katharina zu ihr, als sie auf steht. Sie beeilt sich, weil sie zum Bach hinunter will, um wie die Sommergäste ein morgendliches Bad zu nehmen. Die beiden Urlauber, die in diesem Jahr zum zehnten Mal ihren Sommer hier verbringen, liegen noch in ihren Betten. Sie werden bald aufstehen und das warme Wasser im Krug stehen lassen. Stattdessen werfen sie viel lieber ihre Handtücher über die Schulter und marschieren Hand in Hand in ihren schönen Nachthemden barfuss durch das Gras runter zum Bach. Es ist ein klarer und kalter Gebirgsbach, der direkt hinter dem Garten vorbei fließt. Dort angekommen, ziehen sie ihre Nachthemden aus und gehen vorsichtig über die großen Steine in das eiskalte Wasser, um sich zu erfrischen. Vergnügt und frisch kommen sie zurück und setzten sich an den gedeckten Tisch. Katharina hat das häufig beobachtet und sich gefragt, wie das wohl ist. Heute, da die Gäste abreisen wollen, wird sie es ausprobieren. Sie behält gleich das Nachthemd an und wirft sich, wie die Gäste, ein Handtuch über die Schulter. Leise geht sie an der Küche vorbei in den Garten. Ihre Mutter hat das bemerkt und ruft ihr nach: »Wohin willst du?«. Katharina hält ihrer Mutter das Handtuch entgegen. Jetzt lacht auch ihre Mutter, weil sie ihr Vorhaben erkannt hat. »Verkühl dich nicht!«, ruft sie ihr hinterher. Es ist ein schönes Gefühl barfuss durch das taufrische Gras zu gehen. Vorbei an den Blumen, die noch ihre Augen verschlossen halten, vorbei an den Sträuchern, deren taubeladenen Blätter tief herunter hängen. Sie wollen nicht hin schauen, bildet sie sich ein. Bevor Katharina die Gartenpforte erreicht, kommen ihr die beiden Kühe entgegen, die im Sommer die Nacht auf der Wiese im Garten verbringen. Sie möchten sicher wissen, was sie heute früh hier her treibt, vermutet sie. Sie behalten Katharina im Blick, bis sie hinter der Böschung verschwindet. Sie ist froh, dass sie sie nicht mehr sehen können. Vorsichtig geht sie über die großen Steine ins knietiefe eiskalte Wasser. Es ist viel kälter, als sie sich das vorgestellt hat. Als sie so da steht und nicht weiß, ob sie vor Kälte zittern, sich waschen oder besser doch umkehren soll, bekommt sie Mut. Umkehren möchte sie auf keinen Fall. So zieht sie ihr Nachthemd aus und wirft es in das Gras. »Oh Gott ist das kalt«, denkt sie und schaut nach rechts und links, um sich davon zu überzeugen, dass niemand an diesem Schauspiel teilnimmt. Der Morgen ist frisch und unberührt, es ist kein Mensch weit und breit zu sehen. Sie beißt die Zähne zusammen, nimmt frisches Quellwasser in beide Hände und wäscht sich den Schlaf aus den Augen. Sie ist so aufgeregt, dass ihr nicht mehr kalt ist. Aus reinem Übermut will sie über die Steine noch tiefer ins Wasser. Hierbei rutscht sie aus und gleitet sanft in den kalten Bach. Als Kind hat sie zugesehen, wenn ihr Vater mit bloßen Händen die Forellen unter den Steinen fing. Nun war es ihr egal und sie genoss es, sich von dem glasklaren kalten Wasser umspülen zu lassen. Jetzt ist sie Stolz darauf, dass sie es geschafft hat. Endlich hat sich Katharina einen lang gehegten Wunsch erfüllt. In aller Ruhe geht sie an den Rand der Böschung, nimmt das Handtuch um sich abzutrocknen. Als sie sich das Nachthemd wieder anzieht, wird es ihr warm. In dem Bach spült Katharinas Mutter die Wäsche und legt sie zum Bleichen auf die Rasenfläche. Nun tritt sie den Rückweg an. Die beiden Kühe, Lisa und Anna, nehmen sie in ihr Blickfeld. Sie haben die ganze Zeit darauf gewartet, dass sie zurück kommt. Ihren Blicken folgend geht sie zum Haus. Die Sträucher und Blumen haben inzwischen ihre schwere Last abgelegt und strahlen in voller Pracht in der Morgensonne. Sie denkt, eine schöne Begrüßung. In ihrem Überschwang pflückt sie im Vorbeigehen einen kleinen Blumenstrauß von den am Rande stehenden Steinnelken, um ihn ihrer Mutter zu geben. Jetzt muss sie sich beeilen, weil ihre Mutter schon auf sie wartet. Denn bald stehen die beiden Gäste auf. Als ihre Mutter in der Tür steht, überreicht sie ihr die Blumen. »Für dich«, sagt sie. »Oh wie schön«, sagt ihre Mutter und stellt die Blumen mit der Vase auf den Gästetisch. Als sie Katharinas langen, nassen Haare sieht, weiß sie gleich Bescheid. »Bist du reingefallen?«, fragt sie. Als sie ihr das bestätigt, müssen beide laut lachen. »Leise!«, sagt ihre Mutter, »die Beiden schlafen noch«. Katharina verschwindet schnell und zieht sich um. Ihre Mutter holt die frischen Semmel und das Brot aus dem Backofen. Jetzt geht alles zügig, den Dora und Willi, die bei den Sommerfrischler aus Czernowitz, sind gerade aufgewacht. Als sie ihre Handtücher nehmen und an ihnen vorbei gehen, müssen sie schmunzeln. Die beiden sind über dieses Verhalten irritiert, gehen aber weiter. Beim Frühstück werden sie ihnen von Katharinas Erlebnis berichten. Sie decken den Frühstückstisch auf der Veranda. Die frischen Blumen aus dem Garten machen sich gut neben dem guten Geschirr und der bestickten Tischdecke. Bei der Verabschiedung frühstücken sie immer gemeinsam mit den Gästen. Katharina freut sich auf die frischen Semmel und den Mohnkuchen. Butter, Käse und Marmelade hat Katharinas Mutter auf den Tisch gestellt. Die frische Milch und der Malzkaffee verbreiten ein angenehmes Aroma. Die Schale mit frischem Obst und Gemüse steht auf der Anrichte. Sie haben den Tisch gerade fertig gedeckt, als die Beiden vom Fluss zurückkehren. Sie sagen nur: »Wir ziehen uns schnell an«, als sie in ihr Schlafzimmer gehen. Eigentlich haben sie gleich in ihren Nachthemden gefrühstückt. Katharina hat nach ihrem frischen Bad großen Hunger und ihre Mutter auch. Katharina und ihre Mutter können es nicht erwarten, dass die beiden aus ihrer Kammer kommen. Heute dauert aber alles sehr lange. In den letzten Tagen war ihnen aufgefallen, dass sich ihre Gäste mehr und mehr zurückzogen. »Vielleicht bringt das heutige Gespräch eine Erklärung«, denken sie. Nacheinander kommen die beiden Sommerfrischler an den Frühstückstisch. Katharina und ihre Mutter setzten sich dazu. Heute ist alles anders, stellen sie fest. In diesem Jahr waren die beiden sehr ruhig und zurückhaltend. In den Jahren zuvor waren sie ein fröhliches und glückliches Paar. Obwohl Katharina großen Hunger hat, wartet sie darauf, dass die Gäste zu frühstücken beginnen. Gerade hat Katharina von dem frischen Semmel abgebissen und will ihre Geschichte von heute morgen erzählen, als ihre Mutter das Wort übernimmt und ihr die Vorstellung stiehlt. Sie kann sich nicht wehren. Sie haben jetzt ein Gelächter erwartet. Die beiden nicken nur und frühstücken weiter. Plötzlich war die Stimmung am Frühstückstisch angespannt. Dora und Willi hatten ihren Urlaub wegen der angespannten Lage in der Stadt schon abgesagt, haben sich dann aber anders entschieden und sind doch angereist. Vielleicht ist zu Hause etwas nicht in Ordnung, war die Vermutung von Katharina und ihrer Mutter. Katharinas Mutter ringt sich zu der Frage durch: »Was hat es mit der Besetzung bei euch auf sich?«. Nach dieser Frage stellen sie fest, dass Dora Tränen an der Wange herunter laufen. Willi nimmt sie in den Arm und tröstet sie. Eine völlig unerwartete Situation! Stockend fängt Willi an zu berichten: »Es ist alles viel schlimmer, als wir befürchtet haben. Wir haben größere Schwierigkeiten mit der Besetzung, als ihr das hier im Süden vermutet. Ist euch nicht klar, dass die Nordbukowina ab Juni zur Sowjetrepublik Ukraine gehört? Es ist plötzlich eine völlig neue Situation entstanden. Das sowjetische Militär geht nicht zimperlich mit den Menschen in Czernowitz um«, sprudelt es aus den beiden heraus. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, was in Czernowitz inzwischen geschehen ist«, fängt Willi an zu berichten. »Am Anfang haben wir gehofft, das sich alles wieder beruhigt. Es ist aber nicht so«. »Nachdem das Militär einmarschierte, herrschte ein wildes Chaos in der Stadt. Weil die Gefängnisse geöffnet wurden, fingen die Strafgefangenen an die Geschäfte auszuplündern. Menschen aus der Bevölkerung schlossen sich den Plünderungen an. Es war eine Katastrophe, denn Angst und Schrecken breiteten sich aus. Viele verließen die Stadt«. Jetzt schaltet sich auch Dora ein: »Wir mussten zusehen, wie unser Geschäft geplündert wurde. Zerschlagene Schaufensterscheiben und aufgebrochene Türen in den Geschäften waren überall zu sehen. Auch in den Nebenstraßen sah es nicht besser aus. Wir fragten uns, wo die vielen bösen Menschen herkommen?«. »Das Militär schritt nicht ein«, ergänzt Willi. »Und dann ging es weiter. Im Erdgeschoss unseres Hauses zog ein sowjetischer Major mit mehreren Soldaten ein. Wir sind dann freiwillig in das Obergeschoss gezogen, in der Hoffnung, dass sie wieder ausziehen werden. Aber nein, sie haben sämtliche Schlüssel vom Haus eingesammelt und üben nun das Hausrecht aus«, fährt er fort. »Auch sonst hat sich die Welt bei uns verändert. Hinter verdeckter Hand verläuft eine Welle der Enteignungen. Zunächst werden Fabriken und das Großvermögen enteignet. Heute wissen wir, dass es nur noch Staats- und Volkseigentum gibt. Die in Magazinen gehortete Waren werden von den Machthabern verkauft. Hausdurchsuchungen des Militärs stehen auf der Tagesordnung. Wir sind entmündigt und wissen nicht, wie es weitergehen soll?«, sind die Worte von Willi. Katharina und ihre Mutter sind sprachlos und verängstigt zugleich. Czernowitz war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die Hauptstadt der Bukowina. Dora macht deutlich: »Dieses Chaos war der Grund, warum wir unseren Urlaub bei euch abgesagt hatten. Nun überlegen wir, ob wir überhaupt zurückreisen sollen?«. Katharinas Mutter ringt nach Luft: »Das ist ja alles viel schlimmer, als wir uns das vorgestellt haben!«. Dora bricht in Tränen aus: »Wir wissen nicht was wir machen sollen. Die Menschen in der Stadt sind verunsichert. Die Russen haben unser Textilgeschäft geschlossen. Die Soldaten sortieren Kleidung für ihre Frauen aus. Die russischen Frauen gehen tagsüber in unseren Seidennachthemden in der Herrengasse spazieren. Wir haben nichts mehr zu sagen. Im Augenblick kümmert sich Onkel Max um alles. Gestern haben wir ein Telegramm vom Postamt geholt. Aus dem verschlüsselten Inhalt lesen wir, dass wir nicht zurück kommen sollen«. Willi erzählt Katharina und ihrer Mutter, dass seine Vorfahren aus Wien stammen. Die meisten österreichischen Beamten hatten die Bukowina bereits nach dem Ersten Weltkrieg verlassen. »Jetzt aber zieht es uns den Boden unter den Füßen weg. Ihr wisst, dass Dora Halbjüdin ist. Nachdem wir gehört haben, was die Deutschen mit den Juden machen, sind wir total verunsichert«. »Obwohl überall Stalinbilder hängen, lassen die Sowjets die Juden bislang zufrieden. Im Gegenteil, die Juden sehen sie als Befreier. Nachdem sie die Synagoge geschlossen haben, glauben wir aber nicht mehr daran«, berichtet Dora mit Tränen in den Augen. »Das rumänische Militär hat die Nordbukowina bei der Besetzung Hals über Kopf verlassen. Auch viele Einwohner sind geflüchtet. Die Menschen vermuten, dass Hitler und Stalin dahinter stecken?«, fügt Willi hinzu. Katharinas Mutter ist nun völlig durcheinander und befürchtet: »Dieser Kelch wird auch an uns nicht vorübergehen. Wir haben gehört, dass Hitler die Deutschen am liebsten umsiedeln will«. In dieser schwierigen Situation bietet ihnen Katharinas Mutter an hier zu bleiben, bis sich die Situation entspannt hat. Dabei stellen sie fest, dass sich die Gesichter der Beiden etwas entspannen. Erleichtert nehmen sie das Angebot an. Allen ist inzwischen der Appetit vergangen. Nachdem sich die beiden wieder in ihr Zimmer begeben, räumen Katharina und ihre Mutter den Tisch ab. Da die Gäste ihr Angebot angenommen haben, machen sie sich Gedanken was zu tun ist. Ihr Tagesablauf ist durcheinander geraten, obwohl es ein schöner Morgen werden sollte. Während Katharina zu Ende abräumt, geht ihre Mutter zu Tante Rosa. Rosa und ihr Mann sind Nachbarn. Onkel Johann, der Bruder von Katharinas Vaters, arbeitet ebenfalls im Steinbruch. Obwohl das Verhältnis unter Nachbarn manchmal angespannt ist, halten sie in der Not zusammen. Da der Besuch ihrer Mutter länger dauert, stellt Katharina inzwischen das Mittagessen auf den Herd. Es dauert lange, bis Katharinas Mutter mit der Botschaft zurückkommt, dass Willi und Dora drüben unterkommen können. Sie haben mehr Platz im Haus, weil ihre Kinder schon ausgezogen sind. Die Unterbringung ist gesichert, die Gäste können bleiben. Katharinas Mutter erwartet bereits neue Sommergäste aus Bukarest. In den nächsten Tagen versuchen Willi und Dora mehr von zu Hause zu erfahren. Es ist alles sehr mühsam. Was sie hören ist nichts Gutes. Jetzt machen sich Katharina und ihre Mutter auch Sorgen um ihre Verwandten in Czernowitz. Ostern waren sie noch hier und jetzt soll alles anders sein? »Unvorstellbar!« denkt Katharina. Es gelingt ihnen nicht Kontakt ihren Verwandten aufzunehmen. Sie versuchen wieder Tritt zu fassen. Katharina geht in die Webstube. Für Katharinas Geschwister hat sich im Alttag nichts verändert. Nur die Erwachsenen, vor allem die Deutschen unter ihnen, sind sehr unruhig und schnappen jede Neuigkeit auf. Plötzlich sprechen die Menschen von Hitler und Deutschland. Angeblich will Hitler den Deutschen Bewohnern helfen. Aber wie? Für Katharinas Geschwister ist die rumänische Schule selbstverständlich. Auch, dass sie in der Woche zu Hause von einem deutschen Hauslehrer unterrichtet werden. Die Menschen kommen untereinander gut aus. Auch mit der rumänischen Bevölkerung leben sie gut zusammen. In zwischen hat sich Nazideutschland und Rumänien angenähert. Die rumänischen Nationalisten sind jetzt mit der Rumänisierung der Deutschen zurückhaltender. Das lange Tal liegt schon im Schatten, als Katharina Feierabend hat. Als sie zu Hause eintrifft sitzen sie auf der Bank vor dem Haus und erwarten sie. Sie hat den Eindruck, dass Willi und Dora jetzt etwas entspannter sind. Der Schein kann aber trügen. Ein Telegramm von ihrem Onkel hat ihre Entscheidung, hier zu bleiben, bekräftigt. »Zu Hause ist der Teufel los. Viele Rumänen sind in die Südbukowina geflüchtet. Auch die Juden sind verunsichert. Die sowjetischen Besatzer zeigen ihr wahres Gesicht«, sprudelt es aus Willi heraus. Die beiden wissen, dass es hier nur eine Übergangslösung sein kann. In einem Telegramm haben sie ihren Onkel gebeten, weiter nach dem Rechten zu sehen. Das Geschäft bleibt geschlossen, die Angestellten bleiben zu Hause Die sowjetischen Soldaten sind in ihrem Haus jetzt die Hausherren. Auch Katharinas Hoffnung schwindet, wollte sie doch im Textilgeschäft der beiden arbeiten. Katharina wusste, dass sich das Leben in der Stadt nach dem Krieg unter rumänischer Herrschaft nicht sehr verändert hatte. Die Stadt hatte ihre Eigenständigkeit und Dynamik behalten. Die Deutsche Sprache und Kultur bestimmten, wie in alten Zeiten, das Leben. Nun war mit einem Schlag alles vorbei. Katharina kann sich immer noch nicht vorstellen, wie es jetzt in Czernowitz zugeht. Denn in der Stadt haben die Häuser, anders als im Dorf, Wasserleitungen, elektrisches Licht und Zentralheizungen. Schon lange gibt eine elektrische Straßenbahn. Eine Stadt mit österreichischem Flair, ein kleines Wien. Denn Wien war den Menschen dort immer noch näher als Bukarest. »Was wird wohl aus den vielen Kirchen und Schulen und der großen Universität?«, überlegt Katarina. Sie hatte sich schon auf ein Leben in dieser Stadt gefreut. Jetzt ist sie ganz verzweifelt, weil ihr Traum geplatzt ist. Hier im Dorf hat nur das Sägewerk Strom, weil es ein Stromaggregat hat. Katharinas Eltern haben zwar einen eigenen Brunnen und ein Klo auf dem Hof, sie gehen aber auch mit den Hühnern schlafen. Den großen Garten, die Berge und den Bach hinter dem Garten und die Geschwister und Verwandten wollte Katharina, wie Willi und Dora, im Urlaub erleben. Katharina kann das alles nicht begreifen, sie weiß nur, dass sie hier nicht leben möchte. Immer wenn Katharinas Mutter mit Willi und Dora das Gespräch beginnt, werden sie traurig und erzählen, wie schön alles war. Sie haben nichts vermisst. Der Urlaub in den Bergen war ihnen heilig. Hier in der Natur haben sie sich wohl gefühlt und Kraft getankt. Dora erzählt: »Das Geschäft hat mir mein Onkel übertragen, weil er keine Kinder hat«. Bei dieser Gelegenheit erwähnt sie, dass er Jude ist und fügt hinzu: »Das bin ich auch«. In der Bukowina fühlen sich viele Juden wie Deutsche. Sie haben sich mit der deutschen Kultur identifiziert und begreifen nicht, was jetzt in Deutschland geschieht. Die Juden sind meistens vermögender und gebildeter als die Durchschnittsbevölkerung, obwohl es auch viele arme Juden gibt. Die gute Wirtschaft unter den Habsburgern zog viele Juden aus Galizien an. Es zog sie besonders nach Czernowitz. Sie stellen die meisten Arbeitsplätze. Im Herzogtum fanden sie Anerkennung. Leben und leben lassen galt noch bis heute. Die Meldungen aus dem fernen Deutschland versetzen sie in Angst und Schrecken. Jetzt hoffen sie, dass sie unter der sowjetischen Besatzung sicherer sind. Willi und Dora sehen das anders. Über das Geschehen im Norden wird inzwischen auch im Dorf gesprochen. Da die Menschen hier nicht verstehen was geschieht, verdrängen sie es. Sie hoffen, dass der Kelch an ihnen vorüber geht? Katharinas Meinung, dass etwas geschehen wird, bekommt immer mehr Gewicht, obwohl sie sich nicht vorstellen kann, dass es schlimm kommen wird. Auch die Deutschen in der Südbukowina sind davon betroffen. Die Zeiten sind sehr unruhig. Die Flüchtlingsströme aus der besetzten Nordbukowina müssen im Süden der Bukowina bewältigt werden. Auch die deutsche Bevölkerung ist beunruhigt, weil immer wieder neue Spekulationen auftauchen. Überall treffen sich Deutsche Familien. Sie diskutieren, obwohl sie zu keinem Ergebnis kommen. Da sie von den Ereignissen überrollt werden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten. Es bleibt eine aufgewühlte Bevölkerung. Die einen glauben an Hitler, die anderen haben Angst. Die letzten fünfzig Jahre haben viel Unruhe in diese stille Region gebracht. Auch Katharina verdrängt diese Probleme. Bei ihr wird der Gedanke an Viorel wieder wach. Sie denkt: »Was bedeutet diese Entwicklung für junge Menschen? Wie wird Viorel und wie werden seine Eltern auf die neue Situation reagieren?«. Fragen über Fragen drängen sich ihr auf. Katharina nimmt sich vor morgen mit Viorel darüber zu sprechen. Auch das Treffen mit ihrem rumänischen Freund bringt keine neuen Erkenntnisse.