Winter in den Karpaten

Winter in den Karpaten aus dem Roman Katharina, der letzte Winter im Buchenland von Alfred Wanza

Nach einem gemütlichen Abend folgt am Morgen das böse Erwachen. Die ganze Nacht über hat es geschneit und der Wind hat hohe Schneeberge vor Türen und Fenster gefegt. Aufgeregt ist nur Katharina, den sie will zur Arbeit. Sie lebt mit ihren Eltern und Geschwistern in Poschoritta bei Kimpulung, in der Südbukowina. Das Dorf in den Waldkarpaten wird eingerahmt von den Bergen Adam und Eva, dem Rarau und Giumalau. Auch die Moldova fließt an dem Ort vorbei. Katharinas Vater ist Sprengmeister und hat schon vor einiger Zeit seine Arbeiten im Steinbruch abgebrochen und die Arbeiter nach Hause geschickt. Zwei Kisten mit Sprengstoff, Zündern und Zündschnüren hat er auf einem Schlitten nach Hause gebracht und im Schuppen eingelagert. Seit dem diese gefährliche Fracht dort liegt sind sie unruhig. Im Augenblick haben sie aber andere Sorgen. Der Schnee lässt sie nicht aus dem Haus und Katharina will zur Arbeit. Der Schnee, der sie in diesem Jahr früh überrascht hat, erfordert nun ihre ganzen Kräfte. Gespenstisch heult der Wind um das Haus. Gemeinsam mit den Wölfen, die immer näher kommen. Niemand in der Familie versteht, dass Katharina jetzt zur Arbeit will. Sie hat sich einer Gruppe von Weberinnen angeschlossen, die unten im Dorf Teppiche weben. Jetzt vor Weihnachten ist die Auftragsliste besonders lang. Als sie früh in die Küche kommt, sitzen die Eltern wortlos mit ernsten Gesichtern am Küchentisch. Es ist anders als sonst. Weil der Tisch nicht gedeckt ist, fragt Katharina: »Was ist geschehen?«. »Wir sind eingeschneit, der Schnee hat uns eingeschlossen!«, jammert ihre Mutter. »So schlimm kann es doch nicht sein, wir müssen den Schnee einfach wegräumen«, versucht sie ihre Eltern aufzumuntern. Als sie an das Fenster geht, sieht sie die ganze Bescherung. Der Schnee hat die Fenster zugeweht. »Wir müssen uns befreien. Wird uns denn niemand helfen, auch Onkel Johann nicht?«. Sie erntet nur ein mildes Lächeln. »Du hast wohl noch nicht gesehen wie viel Schnee draußen liegt. Wir bekommen die Haustür nicht auf«. Langsam scheint auch Katharina die Situation zu begreifen. Sie weckt ihren großen Bruder aus dem Schlaf: »Otto, du musst jetzt aufstehen, wir kommen nicht aus dem Haus!«. Grimmig zieht er sich an und kommt in die Küche. Ihre kleineren Geschwister schlafen seelenruhig weiter. »Das kann doch nicht so schlimm sein?«, bringt er mühsam heraus. Bald begreift auch er die Situation und schlägt vor: »Wir müssen aus dem Fenster klettern!«. »Endlich ein guter Gedanke«, denkt Katharina. »Mal sehen, ob ich hier raus komme?«, witzelte er, als er das Fenster öffnet. Im nu wehen Schnee und Kälte in die Küche. Otto kämpft sich durch den Schnee ins Freie. Seine Mutter holt Handfeger und Fegeblech und fegt den hereingewehten Schnee zusammen. »Mit bloßen Händen wird das nicht gehen«, ruft sein Vater hinterher und reicht ihm die Kohleschaufel vom Herd raus. Katharinas Mutter gibt freiwillig ihr gutes Fege blech hinterher. Schnell machen sie das Fenster zu und legen Brennholz nach. Während Otto draußen mit den beiden Schippen machtlos gegen den Schnee ankämpft, deckt Katharina mit ihrer Mutter den Frühstückstisch. Bald klopft ihr Bruder an das Fenster: »Dass schaffe ich nicht allein!«. Trotzdem kümmern sie sich nicht um ihn, denn sie haben alle Hunger. »Kummer macht hungrig«, sagt Katharinas Mutter und holt den heißen Milchkaffee vom Herd. Während die Kleinen noch in ihren Betten liegen, fangen die drei an zu frühstücken. »Der arme Junge«, stöhnt jetzt Katharinas Mutter. »Der wird schon nicht verhungern oder er frieren«, kommentiert Katharina bissig. Den strafenden Blick ihrer Mutter bekommt sie nicht mit. »Otto braucht jetzt keinen heißen Kaffee, dem ist so schon warm«, schiebt Katharina nach. Eine Stunde sitzen sie schon am Frühstückstisch, als Otto wieder ans Fenster klopft: »Ich bin jetzt vor dem Schuppen«, ruft er durch die Scheibe. »Dann hol die großen Schaufeln, damit wir die Haustür frei räumen können«, ruft der Vater zurück. Katharina und ihre Mutter schauen sich nur an, als auch der Vater mit den Worten: »So schlimm hab ich mir das nicht vorgestellt«, aus dem Fenster steigt. Nach einer Stunde haben die Männer die Haustür freigeräumt. Als die beiden Frauen vor die Tür gehen, stehen sie in großen Schneebergen. Spätestens jetzt wird ihnen klar, was hier geschehen ist. Den ganzen Tag über schaufeln sie Schnee, um an die Straße und an den Stall zu gelangen. »Wann können wir die Tiere ver sorgen?«, jammert Katharinas Mutter. Dumpfe Geräusche von den Nachbarn beruhigen sie. »Hallo, hört ihr mich!«, ruft Katharina raus. Aber niemand hört sie. Alle haben das gleiche Problem. Erst am Nachmittag sind sie ein wenig weiter. Später versuchen sie zusammen mit den Nachbarn einen schmalen Weg zur Straße freizuräumen. »Bis an die Bahnstrecke werden sie es nicht mehr schaffen«, fällt Katharina ein. Inzwischen muss auch Katharina einsehen, dass sie so schnell nicht zur Arbeit kommen wird. Am nächsten Tag versuchen die Männer mit Pferden und Schneepflug den Schnee auf der Straße beiseite zu schaffen. Katharina macht sich Sorgen, wie es im Dorf aussieht. Nachbarn machen Katharina klar, dass sie nicht so schnell in ihre Webstube kommen wird. Sie berichten, dass Dächer von Stallungen und Häusern unter der Schneelast eingebrochen sind. Zwei Tage sind sie nun schon mit dem Schneeräumen beschäftigt. Jetzt erst macht sich Katharina auf den Weg zur Arbeit. Nur langsam kommt sie voran. An der Bahnstrecke stecken seit Tagen zwei Züge im Schnee fest. Die Reisenden aus dem Personenzug sind in den umliegenden Häusern untergekommen. Männer versuchen mit großen Schaufeln den Schnee von den Gleisen zu räumen. Katharina kommt nicht über die Gleise ins Dorf. Sie muss wieder den Rückweg antreten. Durchgefroren kommt sie zu Hause an. Sie macht sich einen heißen Milchkaffe und legt ihre Füße zum aufwärmen vor die warme Backröhre. Es dauert einige Zeit bis sie aufgetaut ist. »Die Männer schaufeln immer noch Schnee«, sagt ihre Mutter. »Und wa rum bist du nicht bei der Arbeit?«. Katharina berichtet von dem Chaos, das sie an der Bahnstrecke erlebt hat. Ihre Mutter schlägt ihre Hände über den Kopf zusammen: »Wie soll es jetzt nur weitergehen?«. »Wir müssen Geduld haben«, sagt ausgerechnet Katharina. Der frühe Winter und der Schnee hat alle überrascht. Zum Glück hat die Familie genug zu Essen und auch genügend Brennholz vor der Tür. Auch die Tiere haben genug Futter. Für die Kinder ist der Neuschnee ein riesiger Spaß. »Nur gut, dass wir in diesem Jahr draußen mit unseren Arbeiten schon fertig sind«, versucht Katharina ihre Mutter zu beruhigen. Jetzt fällt Katharina nichts Besseres ein, als sich an den Webstuhl zu setzen. Im Ofen flackert das Feuer und über dem Webstuhl hängt die fuzelnde Petroleumlampe. »Es ist warm und gemütlich hier«, stellt Katharina fest. »Am Webstuhl kann sie sich jetzt in Geduld üben«, denkt ihre Mutter. »Beim Weben kann sie gut abschalten«. Katharinas Gedanken schweifen derweil ab. Ihr kommt in den Sinn, wie viel Arbeit nötig ist um ein Stück Stoff zu weben. Zuerst Flachs anbauen, dann ernten, dann schlagen, dann kämmen, dann bleichen und erst dann in langen Winterabenden zu Fäden spinnen. Erst jetzt kann Stoff daraus gewebt werden denkt sie, während sie den Stoff für ihren Hosenanzug webt. »Die Alten denken gar nicht mehr darüber nach«. Als sie ihrer Großmutter erzählt, dass sie sich aus dem Stoff einen Hosenanzug nähen will, erntet sie Missfallen. So etwas kann man hier nicht tragen, ist die Meinung der Baba. »Sie kennt nur praktische Dinge, wie Tischdecken, Bettlaken und so etwas«, fällt Katharina dabei ein. Katharina hat bei ihrer Tante in der Stadt mitbekommen, dass es schicke Kleider, aber auch Hosenanzüge gibt. Das mit dem Hosenanzug hat sie sich in den Kopf gesetzt. Der Schnee hat inzwischen viel Kraft gekostet. Katharinas Geschwister haben sich nach dem aufregenden Tag in ihren Betten verkrochen. Am nächsten Morgen sprechen alle wieder vom Schnee, ob wohl es nicht mehr schneit. Katharinas Mutter ist besorgt: »In sechs Wochen ist Weihnachten und wir plagen uns hier mit dem Schnee ab«. Katharinas Vater beschäftigt sich derzeit mit ganz anderen Gedanken. Er spricht von seinem Sprengstoff und von den Spuren der Wölfe am Haus. »Ich mache mir Sorgen um unser Vieh, denn die Wölfe aus den Wäldern kommen schon bis an den Stall. Vielleicht kommen auch noch die Bären aus den Wäldern?«. »Dafür ist es viel zu früh«, versucht ihn Katharina zu beruhigen. Sie klappt den Webstuhl zusammen und zieht ihr Nachthemd an, als ihr Vater den Ofen für die Nacht versorgt. Als Katharina am nächsten Morgen in die Küche kommt, muss sie ihrer Mutter von ihrem Traum erzählen. »Mama, heute Nacht hat Genia in meinem Bett geschlafen«. »Genia, in deinem Bett?«, stutzt ihre Mutter. »Ja Mama, wir haben früher immer zusammen geschlafen und uns gegen seitig gewärmt. Heute Nacht war sie bei mir«. »Liebes Kind, was war das für ein schöner Traum?«, sagt ihre Mutter. »Ja, sehr schön«, antwortet Katharina mit feuchten Augen. Es war nicht gut, dass sie ihrer Mutter davon erzählte, denn jetzt fängt auch sie an zu schluchzen. Nun weinen beide schon am frühen Morgen und nehmen sich in die Arme. Genia ist vor einem Jahr mit siebzehn Jahren an Diphtherie gestorben. Sie hatte auf dem Kathreinfest Eis gegessen. Katharina hatte darauf verzichtet. »Das Eis war bestimmt schlecht«, erinnert sich Katharina. Es war furchtbar mit an zusehen, wie sie leiden musste. Sie haben sogar ein Schwein verkauft, damit sie den Doktor bezahlen konnten. Aber helfen konnte er ihr auch nicht. Inzwischen ist die blockierte Gleisstrecke wieder frei und Katharina kann zu ihrer geliebten Arbeit gehen. Die Leiterin der Webstube hat vielen Kunden für Weihnachten die Auslieferung der Teppiche zugesagt. Katharina freut sich schon darauf, dass sie endlich ihre Freundin Rosanah wieder sehen wird. Sie sind Schulfreundinnen. Sie gingen zusammen in die rumänische Dorfschule. Deutschunterricht hatte Katharina bei einem privaten Lehrer, der jetzt ihre kleineren Geschwister unterrichtet. Zuhause sprechen sie Deutsch, oft mit zipser Dialekt. Mit den Rumänen sprechen sie Rumänisch. Die deutschen Beamten gibt es schon lange nicht mehr. Sie sind nach Abschaffung des Herzogtums nach Österreich zurückgegangen. Katharinas Eltern kennen die Bukowina noch aus der Zeit, als es deutsche Amtsstuben und deutsche Schulen gab. Jede Volksgruppe wurde zusätzlich in ihrer eigenen Landessprache unterrichtet. Die Umgangssprache war Deutsch. Obwohl das Herzogtum 1919 aufgelöst wurde und die Bukowina dem rumänischen Königreich angegliedert wurde, blieben die alten Gewohnheiten unter den Menschen beste hen. Mit ihrer rumänischen Freundin Rosana spricht sie nur Rumänisch. Vor allem über ihre Geheimnisse. Rosanah hat Katharina vor Kurzem dazu überredet mit ihr zum Kathreinfest zu gehen. Das Fest ist für eine Rumänin etwas Besonderes. Für die Deutschen im Ort ist es die letzte Möglichkeit vor der Fastenzeit noch einmal Tanzen zu gehen. Rosanah möchte Katharina wieder fröhlich sehen. Mit ihrem sonnigen Gemütbaut sie Katharina immer wieder auf, weil ihr immer noch der Tod ihrer Schwester zu schaffen macht.