Der Schädel meiner Urgroßmutter
Ich schaue nach oben. Unter der großen Kuppel ist in den Stein auf Latein gemeißelt: „Ich, freier Herr, baute diese Kapelle 1881 im Gedenken an meine geliebte Frau Apollonia.“ Wen berührt dieses ferne Echo von Liebe und Leid heute noch? Aus den Erzählungen meiner Kindheit kenne ich die Geschichte. In der Krypta unter der Kapelle liegen mein Urgroßvater und meine Urgroßmutter zusammen. Fast zwei Jahrhunderte sind vergangen, seit die Frau und Mutter in jungen Jahren aus dem Leben gerissen wurde. Dieser Schlag stürzte meinen Urgroßvater, der sie leidenschaftlich liebte, in tiefe Trauer. Im Andenken an sie baute er die Kapelle. Abend für Abend kam er her, um bei seiner geliebten Frau zu sein. Ohne diese Kapelle wäre Apollonias Spur schon längst verweht.
Viele Stürme sind über das Denkmal in der Bukowina hinweggefegt – Kriege und Revolutionen. Neben dem Altar steht vereinsamt ein Bild der Mutter Gottes. Ein Loch klafft in ihrer Brust. Wahrscheinlich hat ein sowjetischer Befreier in trunkenem Zustand durchs Herz geschossen. Aber wer weiß es schon genau? Die alte schmiedeeiserne Einfriedung des Platzes liegt am Boden. Die Kapellenwand spaltet ein großer Riss.
Ich, der Urenkel, stehe zum ersten Mal vor unserer Familienkapelle. Bei Einbruch der sowjetischen Truppen sind meine Eltern geflohen und nie wieder zu den weiten Feldern und Wäldern, die zur Familie seit Generationen gehörten, zurück gekehrt. Nun ist der real existierenden Sozialismus zusammengebrochen und ich bin aus dem fernen Deutschland in die Bukowina, im Nordosten Rumäniens gekommen, um auf den Spuren der Vorfahren zu wandeln.
Aus dem gegenüberliegenden Bauernhaus kommt eine alte Frau mit schleppendem Schritt auf mich zu. „Was suchen Sie hier?“. Ich oute mich als Nachfahre des Erbauers der Kapelle. Da knickt sie zusammen: „Gnädiger Herr, sind Sie ‚zurick‘ gekommen?“ sagt sie, obwohl ich noch nie hier gewesen bin. „Ich hab bei Ihnen gedient“, erläutert sie und ergreift meine Hand, um sie zu küssen. Das kann ich noch abwehren, indem ich ihr eine Tafel Fairtrade Aldi-Schokolade gebe, die ich zur Schaffung von „Good Will“ aus Deutschland mitgebracht habe.
Mein Erscheinen bleibt nicht unbemerkt. Immer mehr Bauern kommen. Manche sind erfreut, andere misstrauisch: Wie ein Außerirdischer bin ich in das Leben dieses abgeschiedenen Dorfes eingedrungen und habe längst vergangene Schatten wach gerufen. Ein stämmiger junger Mann erläutert: „Die Kapelle wurde nicht richtig gebaut. Da hat der alte Herr damals vor 200 Jahren nicht aufgepasst und die Arbeiter haben gepfuscht. Der Riss in der Wand ist nicht zu beheben und führt über kurz oder lang zum Zusammenbruch. So viel Geld habe Sie sicher nicht, um sie zu stabilisieren. Man müsste sie abreißen und neu aufbauen.“
Ich will dieses Familiendenkmal retten. Nur „habe ich nicht so viel Geld, um es zu stabilisieren“. Der junge Mann braucht einen Lieferwagen. Das trifft sich gut. Die vierzigjährige DDR ist gerade jetzt noch vor unserer Kapelle zusammengebrochen. In den neuen Bundesländern kann man Spitzenprodukte der sozialistischen Technik zu Spottpreisen erwerben. Ich werde meinem jungen Freund, einen bewährten Transporter aus dem „VEB Barkas-Werk Karl-Marx-Stadt“ für DM 300 beschaffen. Dafür verpflichtet er sich, die Einfriedung wieder aufzurichten. Der junge Mann holt den Barkas in Cottbus ab und stellt den eisernen Zaun in alter Pracht wieder auf. Später höre ich, dass der sozialistische Wagen wegen eines elektrischen Kurzschlusses ausgebrannt ist. Aber meine Einfriedung steht! Jetzt muss ich die Festigung der Kapellenwand in Angriff nehmen.
Über eine „Kette von Schwächen“ – ein Freund, dem ein anderer verpflichtet ist, der einen Bekannten hat, der jemanden kennt, der helfen könnte, komme ich mit einer Empfehlung zur rumänischen Denkmalbehörde in Bukarest. „Ja, man möchte die Kapelle wegen ihrer einmaligen Kuppel, die an den Petersdom in Rom erinnert, erhalten. Die Zeiten sind aber schwer und man bräuchte dringend eine Mikrofilmkamera, um die Archivierung zu erleichtern. Sofort ergreife ich dieses diskrete Angebot und beschaffe die Kamera für DM 6000. Ganz sicher bin ich mir nicht, dass die vertrauenswürdigen rumänischen Denkmalschützer ihr Versprechen halten werden, aber wer nicht wagt, bleibt am Boden haften.
Meine Zuversicht wird gestärkt: In einem ersten Schritt stellt die Behörde, die Kapelle unter Denkmalschutz. Nach einem Jahr bin ich bei einem Besuch freudig überrascht, zu sehen, dass schon ein Gerüst aufgestellt wurde. Ich fasse Mut. Jahr für Jahr gibt es weitere kleine Fortschritte. Dann komme ich wieder voller Erwartung: Von weitem ist die Kuppel, die über das Dorf ragte, nicht mehr zu sehen. Der ganze Platz ist voller Schutt. Während der sachkundigen Arbeit der rumänischen Restauratoren ist die Kuppel eingestürzt. Aber das schmiedeeiserne Gitter steht noch trutzig. Nach altem Brauch mache ich ein Kreuz: Das war also das Ende der Kapelle Apollonias.
Die Denkmalbehörde verspricht hoch und heilig, das Gotteshaus wieder aufzurichten. Allein mir fehlt der Glaube. Das ist falsch, denn besonders in Wendezeiten geschehen Wunder. Und siehe da: Im nächsten Jahr stehen die Mauern der Kapelle wieder und im darauffolgenden nehmen die Restauratoren die Arbeiten an der Kuppel auf. Es geht aufwärts!
Aber die Zeiten sind unbeständig. Aus Enttäuschung über die raue Marktwirtschaft kommt eine postkommunistische Regierung an die Macht. Die lokale Presse zetert: „Dem Baron wird die Kapelle mit Staatsgeldern restauriert!“ Die alte Frau von gegenüber ist verstorben. Ein letztes Bindeglied zur Vergangenheit ist gekappt. In der Denkmalbehörde sind neue Kader eingezogen. Die Technik hat Fortschritte gemacht. Die jungen Denkmalschützer begnügen sich nicht mehr mit einer einfachen Mikrofilmkamera. Die Kapelle wird von der Denkmalliste gestrichen. Die Kuppel bleibt unvollendet. Das Gerüst rottet trostlos vor sich hin.
Trotzdem kehre ich Jahr für Jahr in das Land der Ahnen zurück. Der Rundgang ist immer derselbe. Im Herrenhaus ist an einer weiteren Stelle die Decke eingebrochen. „Warum?“, frage ich meinen Vertrauensmann. „Das Holz ist karbonisiert“, sagt er emotionslos. “ Was tun?“ – „Alles abreißen!“ In einer Ecke sind wieder Ziegel von den Dorfbewohnern aus der Wand geschlagen worden und stehen zum Abtransport bereit.
Die Kapelle sieht besonders trostlos aus. Am klapprigen Gerüst hängt ein verwittertes Schild: „Betreten der Baustelle verboten“. Das alte schmiedeeiserne Tor, das ich wieder aufstellen ließ, ist verschlossen. Ich steige über den Zaun und wate zur Krypta durch den tiefen Schnee, den der kalte Ostwind aus der russischen Steppe her geweht hat. Das Schloss ist aufgebrochen. Der Weg nach unten ist voll geborstener Hölzer und Ziegeln. Die Decke wird von morschen
Pfählen gestützt. Ich krieche immer weiter. Der Putz rieselt auf mich. Die Bretter knirschen. Sicherlich sind sie auch schon karbonisiert. Bin ich mutig oder leichtsinnig?
Leichtsinnig krieche ich weiter. Auf einmal sehe ich sie vor mir: APOLLONIA! Ihr Schädel liegt auf dem geöffneten Sarg. Ringsum ein Elend von Schutt und menschlichen Knochen. Grabräuber! Was tun? Soll ich wenigstens den Schädel meiner Urgroßmutter mit nach Hause nehmen und im Keller meines Hauses in Ratingen verwahren?
Nein, ich kann das Rad der Geschichte nicht zurück drehen! Ich überlasse Apollonia ihrem Schicksal in ihrer Kapelle.