Emanuel Michael von Kapri

Emanuel Michael Freiherr Kapri v. Merecey (geboren in Iacobesti, Bucovina am 8.1.1894, verstorben in München am 18.5.1972.)

Er stammte aus einer alteingesessenen armenischen Familie und sein Sohn Peter schrieb über seinen Vater: „Vater fühlte sich als Armenier, obwohl er kein Wort armenisch konnte und ganz im deutschen Kulturkreis aufgegangen war“.

Er war Schriftsteller, Dichter und Musiker. Er schrieb einen Familienroman, in dem das Leben der Bukowina Ende des XIX Jahrhunderts ergreifend beschrieben wird.

Er schuf einen fortschrittlichen landwirtschaftlichen Betrieb als Muster für die Bauern der Gegend.

Dr. Peter Blass schrieb im Vorwort des Buches von Emanuel von Kapri über die Bukowina:

„Baron Emanuel Michael von Kapri wurde 1894 auf dem elterlichen Grundstück in Iacobesti, Bezirk Suceava/Bucovina, geboren. Er stammte aus einer Großgrundbesitzerfamilie, die ihren Namen seit Generationen mit dem Schicksal der Bukowina verband.

Nach der geisteswissenschaftlichen Ausbildung in Wien und in Graz beendete eine alte Herzkrankheit sein Leben. Seinem Sohn Peter von Kapri ist es mit Hilfe seines Sohnes Georg von Kapri gelungen, den Familienroman seines Vaters, der jahrelang in einer Schublade lag, in eine digitalisierte Fassung zu bringen und etwas zu überarbeiten. Nachstehend wird mit Zustimmung von Peter von Kapri das Schlusskapitel des Romans veröffentlicht. Die Vielfalt der ethnischen Gruppen und ihr friedliches Zusammenleben in der Bukowina wird authentisch beschrieben.

Emanuel von Kapri hat immer von der Bukowina als dem kleinen Europa geschwärmt.

FELIX BUKOWINA
aus dem Roman von Baron Emanuel Michael von Kapri

Das stille Heim ist außer Rand und Band. Es wird geschrubbt, gebürstet und geklopft. Die Möbel werden neu gepolstert, frische Tapeten geklebt, Außenwände getüncht und das Gitterwerk der Veranden gestrichen. Alles soll im besten Licht erstrahlen. Dennoch kann man nicht umhin, dem Verlust der vertrauten Patina etwas nachzutrauern. Jeder Aufwand ist aber gerechtfertigt. Das bevorstehende Ereignis ist so einmalig, „geschichtlich“, möchte man fast für diesen kleinen Ort sagen.

Seine Hochwohlgeboren,
der k.k. Landespräsident der Bukowina,
Hieronymus Freiherr von Alesani,

Ritter des kaiserlich-österreichischen Leopold- und des eisernen Kronenordens II. Klasse, Ritter des kaiserlich-russischen St.-Stanislas-Ordens I. Klasse, Offizier des königlich-italienischen Mauritius- und Lazarusordens, Träger des persischen Löwen- und Sonnenordens, Landtagsabgeordneter, Ehrenbürger der Städte Czernowitz und Arco, und noch vieler weiterer Ehren und Auszeichnungen mehr …

wird am 28. Mai 1883, von Suczawa kommend, gegen 11 Uhr vormittags in Scherboutz eintreffen.

Der Regierende des Landes, Seiner Majestät des Kaisers persönlicher Vertreter, wird also gelegentlich einer offiziellen Bereisung der südlichen Bezirke der Bukowina, auch dieses Mustergut besichtigen. Während man in Wien, der Kaiserstadt, längst an die Symbole kaiserlicher Macht gewöhnt ist und ihnen mit gewisser Blasiertheit begegnet, hat hier im jüngsten und östlichsten Herzogtums der Monarchie der bevorstehende Besuch eine schwärmerische Verehrung ausgelöst.

Vom frühen Morgen an rollen die Equipagen der Nachbarn vor. Die Hauptfront des Herrenhauses, festlich mit Fahnen, Girlanden und Blumen geschmückt, bietet ein prächtiges Bild. Es mangelt an Zuschauern nicht. Zu beiden Seiten der Terrasse haben sich die Dörfler in dichten Gruppen geschart. Der Zustrom aus den umliegenden Weilern lässt die Menge stetig anschwellen. Alle sind in bester Sonntagstracht erschienen. Die makellosen Leinenhemden und weißen Pelzjacken, in bunten Farben mit blumigen Mustern reich bestickt, leuchten lebendig im Glanz der strahlenden Maisonne. Kein überlautes Wort, kein ungestümes Drängen stört das feierliche Bild. Die Menge, inzwischen auf viele Hundert angewachsen, nimmt ohne sichtbare Aufsicht oder einer strengen Hand Aufstellung. Die Vorfreude auf den hohen Gast liegt wie ein feiner Schleier über der Versammlung.

Lange vor der für die Ankunft der hohen Gästen festgesetzten Stunde waren alle Abordnungen aus den entfernteren Gemeinden des Bezirks eingetroffen. Michael machte einen Rundgang , um die Dorfältesten der Gemeinde willkommen zu heißen. Besonders herzlich begrüßte er die Geistlichen  der verschiedenen Religionen. Orthodox, katholisch oder jüdisch, die alle gekommen waren, um den Landespräsidenten zu begrüßen.

Baron Johann zeigte Gabriele die Musikgruppe, welche er aus Fogadjisten (Gott segne Dich)  mitgebracht hatte. Auf den ersten Blick fielen die Musikanten kaum auf, da ihre Kleidung sich nicht von der der anderen Bauern unterschied. Doch einer stach unweigerlich heraus: Er trug Zivilkleider, aber seine Brust prangte voller militärischer Orden. Ein mächtiger K.u.K. Backenbart umrahmte sein Gesicht. „Das,“ erklärte Baron Johann mit einem Schmunzeln, „ist Musikfeldwebel Nepomuk Drafta vom Infanterieregiment Nr. 63, dem ‚König der Niederlande‘.“ Mit einer gewissen Bewunderung fügte Johann hinzu: „Nepomuk hat nicht nur mir und meinen Geschwistern Musikunterricht erteilt, sondern auch den auf dem Gut angesiedelten Zigeunermusikern das Notenlesen und das Spielen moderner Instrumente beigebracht. Dank seinem vielseitigen Können und seiner unerbittlichen Disziplin hat er es geschafft, aus diesen talentierten, aber ungeordneten Musikern eine regelrechte Militärkapelle zu formen.“ „Doch,“ sagte Johann lachend, „möchte ich den größten Misserfolg des Feldwebels nicht verbergen. Er konnte sich noch so bemühen, aus meinem Bruder Georg konnte er keinen Musiker machen.

Die Dörfler standen nicht wahllos herum. Zur linken Seite der Hausfront hatten sich die Scherboutzer, ihrer Nationalität nach Ruthenen (Ukrainer), zur Rechten die Calafindeşter, Rumänen versammelt. Schon auf den ersten Blick ließen sich die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen erkennen – nicht nur an den Formen der Hüte, sondern auch am Schnitt der Hemden und Pelze. Besonders auffällig aber waren die Farben und Muster der kunstvollen Stickereien auf ihren Kleidern, die ihre jeweiligen ethnischen Traditionen widerspiegelten. Die Trachten der Ruthenen zeigten eher geometrische Muster in kräftigen Rot- und Blautönen, während die Rumänen farbenfrohe florale Verzierungen trugen, oft mit goldenen Akzenten, die im Sonnenlicht leuchteten.

Doch nicht nur Rumänen und Ruthenen waren erschienen, obzwar ihre malerischen Trachten im Gesamtbild vorherrschten. Gegenüber der Hausfront in einem weiten Bogen stand eine andere Gruppe von dunkel gekleideten Männern. Das waren die Ungarn in ihren engen verschnürten Hosen, den kurzen anliegenden Brustjäckchen, aus deren Schulterausschnitten die weißen Hemdärmel bauschig hervortraten. Und zuletzt die blanken schwarzen Stiefeln. Keine bunte Farbe, sogar die seidene, unter dem Hemdkragen gebundene Krawatte war schwarz.

Und dort die deutschen Bauern untrüglich, zum sonntäglichen Kirchgang gekleidet. Schwerfällig und bedacht stehen sie in der Reihe. Sie tragen lange schwarze oder blaue Tuchjacken, unter denen sich halbseidene Westen und massive Uhrketten blicken lassen. Die Uhren sind das Zeichen ihres verdienten Wohlstandes. Auch das buntfarbige Sacktuch (Taschentuch) fehlt nicht, dessen Spitze formlos aus der Tasche hängt. „Bukowiner Schwaben sind es“, erklärt Baron Johann, „Enkel und Urenkel der von Kaiser Josef II aus Franken und vom Rhein hierher verpflanzten Kulturbringer, die tüchtigsten Landwirte und Viehzüchter des Landes.

Merklich abgesondert von den Anderen, im Schatten der Fichten zurückgezogen, welche die Hausfront gegen die nördliche Anfahrt hin flankieren, sah man eine Gruppe hochgewachsener, breitschultriger Männer. Sie schienen bewusst den Abstand zu wahren, als würden sie nicht recht zu dem festlichen Treiben gehören. Sie trugen lange Hemden aus einfachem, grobem Stoff, die bis zu den Knien reichten. Die Beine waren in lange Wickelstrümpfe gehüllt. An den Füßen trugen sie schwere Juchtenstiefel. Auffallend waren die langen dichten Vollbärte, die die ernsten Gesichtern umrahmten. Mit abwesenden Blicken ihrer lichtblauen Augen schienen sie über all das Getriebe teilnahmslos hinwegzusehen.

Baron Johann bot sofort die nötigen Aufklärungen. „Es sind in der Tat wahre Russen, sogenannte Altgläubige, welche die Lehren der im 17. Jahrhundert reformierten russisch-orthodoxen Kirche nicht anerkennen und sich den Bart, ein Symbol ihrer Frömmigkeit, von Zaren Peter I. nicht abschneiden lassen wollten. Deshalb nannte man sie in Russland „Raskolniki“, – „Aufrührer“. Sie waren harten Verfolgungen ausgesetzt und suchten jenseits der Grenzen des Zarenreiches ihrem Glauben treu zu bleiben. Der aufgeklärte österreichische Kaiser Joseph II. nahm sie in der Bukowina auf. Es sind bescheidene, ehrliche, arbeitsame Menschen, die ihrem Glauben ganz ergeben sind. ‚Lipowaner‘, nennen sie sich selbst, nach dem Fluss Lipovka, von wo viele von ihnen ursprünglich stammen. Sie halten nicht nur ihre Seele, sondern auch ihren Körper rein. In der Banja, dem traditionellen russischen Dampfbad kommen sie richtig zum Schwitzen, dann lassen sie sich mit Birkenzweigen richtig abgeklopft. Zum Schluss stürzen sie ins kalte Wasser, was nicht nur den Körper erfrischt, sondern auch den Geist belebt.“ Baron Johann geriet ins Schwabbeln und hätte wohl noch so manch Sonderbares über die religiösen und weltlichen Bräuche dieser Menschen erzählt, wäre nicht eben das Nahen des hohen Gastes angekündigt worden.

Da hört man schon den Klang von Hufen auf der gepflasterten Dorfstraße. Die südliche Anfahrt heran kommen in flottem Trab die Spitzenreiter des Banderiums, die persönliche Fahne des Landespräsidenten weht hoch über den Köpfen. Sie werden von Stallmeister Hanus, diesmal in seiner immer noch parademäßigen, wenn auch etwas zu eng gewordenen Wachtmeister Uniform, auf einem bildschönen Lippizanerhengst, angeführt. Seine Brust ist von Stolz anschwollen, seinen Rang auf diesem einmaligen Ereignis dartun zu können. Ihm folgt eine stattliche Reiterschar. Michael hatte die strammsten Dorfburschen auf seinen besten Pferde beritten gemacht. Auch die Söhne wohlhabenderer Bauern auf eigenen Rössern reiten mit. Ihre Hüte sind mit Eichenlaub und Flitter geschmückt. Mächtige schwarz-gelben sowie blau-rote Fahnen, in den Farben des Kaiserreichs Österreich und des Herzogtums Bukowina flattern im Wind.

Die vierspännige Equipage fährt vor. Die Pferde halten meisterhaft pariert. Eine feierliche Stille breitet sich aus. Im Fond der Kutsche sitzen zwei Herren in dunkelgrünen Uniformen, deren reich verzierte goldene Borten in der Sonne funkeln.. Sie verweilen einen Gedanken lang. – Dann erhebt sich der zur Linken, der Adjutant und eilt dienstbeflissen linksum nach vorne. Er öffnete die Wagentür, rafft den Degen, drei gemessene Tritte, – er steht. Mit unverkennbarer Gelassenheit des Weltgewandten erhebt sich der Landesvorsitzende und steigt ohne Eile aus. Er lässt den Blick über die versammelte Menge gleiten, als würde er für einen Augenblick in ihre Seelen sehen.Wir verneigen uns. – – Und in diesem Augenblick ertönen die ersten wuchtigen Akkorde unserer Ehrfurcht gebietenden Kaiserhymne.

GOTT ERHALTE, GOTT BESCHÜTZE, UNSERN KAISER UNSER LAND!

Der Klang erfüllt die Luft, majestätisch und Ehrfurcht gebietend. Die tiefen, feierlichen Töne der Bläser, die kräftigen Trommelschläge – alles vereint sich und ergreift die Herzen der Anwesenden.

Dank Dir, Heiliger Nepomuk!“, denkt Gabriele. Sie glaubte, nur eine österreichische Militärkapelle könnte die Nationalhymne wahrhaft in strengem Maß und sonorem Jubel spielen. Aber die Zigeunermusiker aus Fogadjisten schaffen es nicht nur präzise, sondern auch mitreißend zu spielen. Jeder Ton scheint von einer leidenschaftlichen Kraft durchdrungen, der Gabrieles Herz fester schlagen lässt. Der hohe Herr hebt ehrfurchtsvoll die Hand an die Hutspitze. Der alte Musikfeldwebel, als hielte er den Tambourstab fest in der Hand, fährt seine Faust gebieterisch hoch und lässt sie dann im Takt mit einem einzigen kraftvollen Schlag niederfahren. Sein Wille, sein Takt beschwört in diesem Augenblicken die Gegenwart des erhabenen Monarchen in unserer Mitte. Der kleine Ort ist mit dem großen Reich verbunden.

Gabriele gibt Albine einen kleinen Schubs. Wie eine zierliche Puppe in ihrem weißen Spitzenkleid trippelt diese eifrig vorwärts, knickst anmutig und spricht mit geröteten Wangen und kindlicher Begeisterung betont die patriotischen Verse, die Gabriele für sie gedichtet hat:

Unser Kaiser

Von Gottes Gnaden uns gegeben,
Du schirmst dein Volk, du schützt sein Leben.
Mit Weisheit lenkst du unser Land,
In deiner starken Kaiserhand.
Gott segne dich, o edler Mann,
Der alles Gute wirken kann!

Den Blumenstrauß, den sie dem Landespräsidenten überreicht, nimmt dieser mit einer gütigen Dankesgeste entgegen.

Michael tritt hervor. Mit einer bewegten Stimme setzt er zu seinem Vortrag an:

Eure Exzellenz, nun sind es mehr als hundert Jahre, seit Österreich dieses verarmte Land von der hohen Pforte übernahm. Was einst ein dünn besiedeltes, raues Gebiet war, hat sich zu einer blühenden und lebendigen Region entwickelt. Die Bevölkerung ist von 86 000 damals auf inzwischen fast 600 000 Seelen angestiegen. Es sind verschiedene Volksgruppen: Rumänen, Ruthenen, Deutsche, Juden, Russen, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Kroaten, Serben, Slowenen, Bulgaren, Griechen, Armeniern, Türken, Zigeuner und andere mehr. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und Kultur leben alle in Eintracht, Freundschaft und Wohlstand zusammen. Sie sind frei, ihre Eigenart zu wahren, ihre Traditionen zu pflegen und ihren Glauben zu leben. Vielfalt ist eine Stärke. Alle Völker dieses Landes, so verschieden ihr Ursprung und ihr Glaubensbekenntnis auch sein mögen, vereinen sich in liebevoller und dankbarer Huldigung für unseren Monarchen, in dessen Namen von Euer Hochwohlgeboren, Herr Landespräsident, regiert zu werden, sie sich glücklich schätzen. Lasst uns die Bukowina, das kleine Europa, zusammen feiern, als ein Symbol für das, was möglich ist, wenn Menschen ihre Herzen öffnen und in Respekt und Freundschaft zusammen leben!

DAS WAR EIN AUGENBLICK DES GLÜCKS, FÜR ALLE.

Doch ein Augenblick verweilt nicht lange. Genießt ihn in vollen Zügen! Denn auf das Glück folgt das Unglück. Nach vierzig Jahren kam der große Krieg und dann ein noch schlimmerer, verheerender. Die Bukowina, dieses kleine Europa, Heimat verschiedener Völker und Kulturen, wurde aufgeteilt und zerrissen. Die Deutschen, die über Generationen hinweg die Felder bestellt und die Städte geprägt hatten, wurden „Heim ins Reich“, in fremde polnische Gebiete, gebracht. Auch die anderen kleinen Volksgruppen, fester Bestandteil des bunten Mosaiks, wurden entwurzelt. Mit eiserner Faust übernahm der Kommunismus die Macht. Das prächtige Herrenhaus in Scherboutz ist spurlos verschwunden, als hätte es nie existiert. Nur Apollonias Gedenkkapelle, in der Maries glänzende Hochzeit gefeiert wurde, steht einsam und verwittert da. Ein blasser Schimmer  der einst so lebendigen, vielfältigen Welt. Das Echo einer Zeit, in der Menschen unterschiedlicher Herkunft und Glaubens Seite an Seite friedlich zusammen lebten, verhallt.