
Die Flucht
Fredis Vater hatte mit Pferden und Wagen und etwas Hab und Gut in einem Treck etwas früher den Ort verlassen. Überflüssiger Weise nahm er den ihm überlassenen Karabiner mit auf den Weg, weil er den Treck vor Plünderungen beschützen wollte. Fredi, seine Mutter und Schwestern begaben sich auf die Flucht, als der Krieg bereits beendet war. Zwei Jahre nach seiner Geburt erlebte Fredi diese chaotische Zeit, die mit der noch schrecklicheren Flucht in einem offenen Güterwaggon endete. Eine Traumapsychologin erklärte ihm später, dass dramatische Erlebnisse in der Kindheit, die sich innerhalb eines Sozialverbandes abspielen, keine negativen Folgen hätten. Wer weiß das schon genau?
Die Flucht, an die sich Fredi nicht erinnert
Erst nach mehr als sechzig Jahren lernte Fredi eine Frau kennen, die im Alter seiner Geschwister war und aus dem Heimatort seiner Familie stammte, die der gleichen Flüchtlingsgruppe angehörte. Sie hatte später, ähnlich wie seine Geschwister, Ostdeutschland früh verlassen. Von Angela konnte er viel über die Heimat seiner Eltern und Geschwister, die nicht mehr lebten, in Erfahrung bringen. Nun hatte er jemanden gefunden, der ihm auch etwas über die Fluchterlebnisse berichten konnte, an die er sich nicht mehr erinnerte.
Wie geschildert, verließ sein Vater mit Pferden und Wagen in den ersten Monaten des Jahres 1945 mit einem Treck den Ort. Er hatte seine in Wien lebende Schwester als Ziel ausgesucht. Es wurde nur ein kurzer Besuch, weil Wien in Schutt und Asche lag. In Linz stellte er später Pferde und Wagen auf einem Bauernhof ab. In der Zwischenzeit löste die heranrückende Sowjetarmee chaotische Situationen aus, so dass Fredis Mutter mit ihm und seinen Geschwistern Hals über Kopf an den Ort in die Tschechei flüchteten, an dem Ort sie nach der Umsiedlung im Lager untergebracht waren. Zufällig hatten auch andere Buchenländer den gleichen Gedanken. Sie hatten alle samt das Glück, in Altschiedel in der Tschechei in der Nähe von Reichstadt eine vorübgehende Bleibe zu finden. Ein Gastwirt und eine alte Frau, die etwas für Deutsche übrig hatten, überließen ihnen ein kleines Häuschen. Weil es Tschechen waren, die Deutschen geholfen und sie vor den Russen versteckt hatten, waren sie selbst in Schwierigkeiten geraten und baten daherdie Ankömmlinge den Zufluchtsort zu verlassen. Dabei überließen sie ihnen einen Handwagen mit einer schweren Kiste unbekannten Inhalts. Die fünf Familien wurden am 1.6.1945 von den Tschechen aus dem Land gewiesen. Trotzdem stellte man ihnen einen offenen Kalkgüterwaggon zur Verfügung, der an Züge in Richtung Deutschland angehängt werden sollte. So gut es ging versuchten sich die Familien mit ihrem Gepäck und der schweren Kiste im Waggon einzurichten. Der Inhalt der schweren Kiste, die sie an den Kontrollen des Militärs vorbeischmuggelten, sollte den Familien später das Leben retten. Sie war mit Schmalzfleischdosen der deutschen Armee gefüllt. Wenn der Waggon abgehängt wurde, um an einen anderen Zug in Richtung Deutschland angekoppelt zu werden, strömten die Insassen aus, um ihre Notdurft zu erledigen oder sich in einem Bach oder einer Pfütze zu waschen. Andere strömten aus, um irgendwo etwas zu erbetteln. Über einem Blech mit zwei Ziegelsteinen wurde schnell eine Feuerstelle errichtet. Unterwegs sammelten sie Rutenstöcke, um mit Decken ein Dach über den offenen Waggon zu errichten. Besonders schlimm waren die Kontrollen auf den Bahnhöfen. Hier waren sie als Freiwild den tschechischen und russischen Soldaten ausgesetzt. Da Fredis Mutter unterwegs erkrankte, kümmerten sich seine Schwestern um ihn. Tag später traf der Transport in Sachsen ein. Hier sagte man den Geflüchteten, dass sie in Erlau angekommen sind und sie hier bleiben können. Sie mussten einige Tage auf einem Abstellgleis ausharren, weil das sowjetische Militär den Auftrag hatte, den Flüchtlingstransport Richtung Osten abzuschieben. Nur weil aufgrund der Zerstörungen in Dresden keine Züge in diese Richtung fuhren, wurden sie freigelassen. Auch in Erlau war die Situation nicht einfach, weil freigelassene Häftlinge auf umliegenden Bauernhöfen marodierten. Nachdem sich die Situation etwas beruhigte, wurden sie übergangsweise von Bauernhöfen aufgenommen. In dieser Zeit stieß auch auch Fredis Vater zur Familie. Er kam gerade dazu, als sowjetische Soldaten eine Frau „windelweich“ schlugen, weil sie einen Gegenstand in einem Tuch mit einem kleinen Hakenkreuz eingewickelt hatte. Die Soldaten waren irritiert, als sein Vater sie auf russisch ansprach. Sie ließen von der Frau ab und wandten sich ihm zu. Am Ende bekam auch er einige Schläge mit einem Gummiknüppel auf den Rücken seiner gefütterten Jacke.
In Erlau unternahm Fredis Vater mit Fredi kleinere Ausflüge. Einmal stellte er den Handwagen mit Fredi unter einen Apfelbaum, um Äpfel von den Zweigen zu schütteln. Ein Andermal ging sein Vater mit ihm in den Wald um Pilze zu suchen. Er setzte Fredi zum Spielen auf ein moosiges Plätzchen ab. Sein Vater war vom suchen der Pilze so erfasst, dass er den stillen Fredi erst nach längerem Suchen im Wald wiederfand. Vor Verlassen des Ortes Erlau wurden von der Fluchtgemeinschaft Kontakte mit dem Bürgermeister in Kleinpaschleben geknüpft. Man hat sich bewusst wegen der guten Ernten für einen Ort in der Magdeburger Börde entschieden. Auch bestand die Hoffnung, dass wegen der vor den Sowjets geflüchteten Bauern Wohnraum zur Verfügung stand.
Was kann Fredi, der sich an die Flucht nicht erinnert, mit den Aussagen von Angela anfangen? Er kann nur daraus ableiten, in welch schwieriger Situation er sich, als jüngstes Mitglied, in diesem Transport befand. Er musste sich auf die Hilfe seiner Mutter und seiner Geschwister verlassen, die zusammen mit anderen Insassen des Waggons einen Überlebenskampf führten. Es ist nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie nicht zufällig die Kiste mit den Schmalzfleischdosen dabei gehabt hätten. Wenn Fredi heute über diese Situation nachdenkt, stellt er sich seinen Blick in die panischen Gesichter seiner Mitreisenden vor. Er wird mitbekommen haben, in welcher Situation sie sich befanden. Dieser Sozialverband, wie ihn Psychologen nennen, wird sich mit all seinen Reaktionen unbewusst in sein Gedächtnis eingebranntn haben.
Nach den schwierigen Nachkriegsjahren begann für Fredi, bis er 1955 mit seinen Eltern in den Westen umsiedelte, in Sachsen Anhalt eine bescheidene und unbeschwerte Kindheit.